Kain Essener und das Silberne Abitur




Eines war ihm klar geworden: Er war ein N�rnberger, der in München lebte.

Am Samstag hatte Kain Essener noch Manches erledigt, was anstand, hatte zu Mittag gekocht und gegessen. Dann packte er f�r eine Nacht - die Kameras nicht vergessen - sein Auto hatte er schon vorbereitet, gereinigt, waschen lassen, getankt. Gegen half fünf belud er dann seinen Wagen.
Seit mehr als 5 Jahren startete Kain wieder einmal in Richtung Heimat. Hier in München, wo er nun auf dem F�hringer Ring zur N�rnberger Autobahn fuhr, hier in München war er zu Hause, hier lebte, arbeitete er. Dort die Stadt, N�rnberg, war f�r ihn Heimat, dort war er aufgewachsen - und in, mit, durch diese Stadt groß geworden, hatte dort Selbst�ndigkeit erfahren. Heute w�rde er die Anderen wieder treffen, die diese Zeit mit Ihm geteilt hatten. Er fuhr zum Abiturtreffen, volle 25 Jahre danach.

Er erreichte die Autobahnauffahrt und f�delte sich mit seinem italienischen Kleinwagen in den flie�enden Verkehr ein. Vor ihm ein Benz  mit einem offenen Anh�nger, über dessen Ladefl�che nach hinten ein Eisenträger mit rotem Wimpel dran wippend hinausragte. Noch war das Tempo auf 80 km/h beschr�nkt, doch Kain überholte. Direkt eilig hatte er es nicht, aber je eher er die Autobahnfahrt hinter sich brachte, desto besser.

W�rde es ein Abiturtreffen werden, wie es so oft in Filmen dargestellt wurde: mein Haus, mein Mercedes, meine Frau? Zu welchen Persönlichkeiten hatten sich seine Klassenkameraden entwickelt? Sein eigener Lebensweg war widerspr�chlich verlaufen, mit L�ngen und Tiefen - und wenigen H�hen. Erst jetzt ging es ihm beruflich und Persönlich wieder etwas besser, erst jetzt hatte er bescheidene Erfolge. Aber bevor er soweit kam, hatte er seine Lebensplanung von damals v�llig revidieren m�ssen, den einst angestrebten und durch ein Studium erworbenen Beruf aufgeben m�ssen und etwas Anderes, Neues begonnen.

Kain fuhr nun schneller als 120 km/h. Er sp�rte eine Unwucht der Vorderr�der seines Wagens, das Lenkrad bebte in seinen H�nden. Er fasste fester zu, beschleunigte aber auch im 5. Gang langsam weiter.

In N�rnberg war er groß geworden. Eigentlich war er in einem Vorort aufgewachsen, einer Gemeinde 9 Kilometer vom Stadtzentrum, mit weiten Feldern vorm Haus seiner Eltern. Aber in der Stadt hatte er begonnen, bewusster, selbst�ndiger zu werden. Hier erlebte er Freiheiten. Er liebte diese Stadt mit ihrer markanten , vielf�ltigen Topografie, ihren vielen Pl�tzen und Winkeln, die er auf seinen Streifz�gen entdeckte und erkundete.
Seine Schule stand am Pegnitzhochufer im Nordwesten der Stadt. Hier lernte er neun Jahre seines jungen Lebens zusammen mit denen, die er bald wieder treffen w�rde. Sprachen, Naturwissenschaften und auch Kunst, wie sie seine Eltern nicht kannten. Schule war ein Muss, wie er verstand, manches qu�lte ihn, bis er einen eigenen Zugang fand, oft erst viel sp�ter, aber vieles interessierte ihn, er konnte den Sinn verstehen, die Notwendigkeit, zu kennen, verstehen.
Die wirkliche Freiheit, Selbst�ndigkeit begann am Mittag nach dem Unterricht. Wann immer er wollte und konnte, blieb er in der Stadt, fuhr mit der Stra�enbahn ins Zentrum innerhalb der Stadtmauern, zur Lorenzkirche, den Gesch�ften der Breiten Gasse, ins Kino, alleine oder mit einem Klassenkameraden. Er gab sein Taschengeld f�r Schallplatten und Taschenb�cher aus oder besah sich in den Auslagen der Fachgesch�fte mit einem begehrlichen Gef�hl in der Magengrube die neuesten Stereoanlagen.
Als in N�rnberg am Pl�rrer der erste MacDonalds er�ffnete, sa� er mit seinen Freuden nach der Schule dort oft beisammen. Sie a�en Big Macs, tranken Cola und unterhielten sich über Lehrer, Noten, die Tanzstunde und M�dchen, über die neuesten Filme, Fu�ball und manchmal auch über Politik.
Und immer wieder erlebte er die Stadt, durchstreifte sie, bis sie ihm vertraut wurde. Er durchwanderte die Gassen mit ihren mittelalterlichen Fachwerkh�usern, bog um Ecken in der Altstadt, genoss neue Anblicke. Er liebte den Blick vom Platz vor der Lorenzkirche, hinunter zum Fluss, zum Hauptmarkt und hinüber zur Burg. Manchmal machte er einen Umweg, um noch zu schauen.
überhaupt, die Kirchen Sankt Lorenz und Sankt Sebald gegenüber auf der Burgseite. Die N�rnberger hatten ihrem Gott feste H�user gebaut, etwas gr��er, und es w�ren zwei Dome in der Stadt gewesen. Vor Sankt Lorenz konnte er nie anders: Er musste die Portalfassade mit der großen Sandsteinrosette betrachten.

Inzwischen hatte Kain Essener die Raffinerien bei Ingolstadt hinter sich gelassen. Nur eine kurze Pause am Parkplatz oberhalb des Gredinger Berges. Bisher hatte er mit dem Wetter Gl�ck, zumindest war es trocken. Bald fuhr er wieder im 5. Gang,  zusammen mit anderen raste er durchs sch�ne Altm�hltal.

Sein Banknachbar von damals w�rde nicht mehr dabei sein, wenn sie sich trafen. Jahrelang hatten sie eine Bank geteilt, die Zeit in der Schule und auch die Freizeit mancher Nachmittage gemeinsam verbracht. Gemeinsam hatten sie eine Liebe zur Fotografie, er hatte sich beim Kauf seiner ersten "richtigen" Kamera vom anderen beraten lassen. Manchmal gingen sie gemeinsam auf Fotosafari. V�llig unvorhergesehen war der andere vor zwei Jahren gestorben. Einer, der nicht mehr kommen w�rde.

Hinter Greding begann ein feiner Nieselregen, als hingen silberne Bindf�den vom Himmel, die der Scheibenwischer mit klappenden Bewegungen zur Seite schob, wieder und wieder. Es h�rte nicht auf, Altdorf, Feucht, Kain bog ab auf den Stadtzubringer. Die nie besuchte Tankstelle an der Autobahnauffahrt, die Hochh�user der Trabantenstadt Langwasser. Kain hatte die Stadt erreicht, fuhr durch die S�dstadt, Bahnanlagen, Gewerbebauten, nicht sch�n, aber ordentlich. Hinter dem Hauptbahnhof an den Gleistrassen entlang, durch die Unterf�hrung, und er war am Frauentorgraben, auf dem Vorplatz des neu renovierten Hauptbahnhofes. An der Stadtmauer entlang nach Westen, die Oper, der Pl�rrer, hinein in die F�rther Strasse, die jenseits der Stadtgrenze dann N�rnberger Strasse hie� und die beiden St�dte wie zu einer verband. Seit dem Bau der U-Bahn hatte sich hier einiges ge�ndert, war, wieder, gepflegter geworden, mit Schr�gparkern und neuer Baumbepflanzung vor den Gründerzeitfassaden. Er musste schauen, suchen, bis er die Strasse fand, die zur Schule f�hrte.

Das D�rer-Gymnasium, seine alte Schule, hatte eine besondere Lage. Am Hochufer des Pegnitzgrundes, über dem Westbad, ja. Aber fr�her war auf der einen Seite eine großbrauerei, auf der anderen Seite grenzte der Schulhof, abgeschirmt von einer 8 Meter hohen Betonmauer, an die N�rnberger Justizvollzugsanstalt. Oft hatten sie im Scherz ger�tselt, wer nun eingesperrt sei, vom Balkon des Musiksaales unter dem Dach konnten sie manchmal Gefangenen zuwinken, die von ihren vergitterten Fenstern aus herübersp�hten. Derweilen verpestete die M�lzerei auf der anderen Seite die Luft mit ihrem Gestank. Die großbrauerei war im Brauereisterben aufgegeben worden, nun stand an ihrer Stelle ein Gartenlokal, mit einem großen Biergarten, der nun, im Herbst, bei diesem Nieselregen verlassen lag. Hier im Lokal hatte ihr Klassensprecher Tische reservieren lassen.
Kain fuhr zunächst einmal vorbei, vorbei auch an der Turnhalle, in der er zuletzt geschwitzt und Abitur geschrieben hatte, hinunter vor den Treppenaufgang des Schulhauses. Er parkte, stieg aus. Ein Platz seiner Jugend. Er kannte noch die rauhe Oberfl�che der Steinbalustrade vor dem Eingang. Er lief herum, überall war abgesperrt, kein Hineinkommen. Klar, es war Samstag, Wochenende. Er spitzte durch das Gittertor in den Schulhof: Die Betonmauer, die sie damals hatten bemalen d�rfen, nun von Wein überrankt? An einer Geb�udeecke waren Farbproben angebracht, Testmuster f�r eine Renovierung. Aber so, wie er sie sah, hatte er die Farbe des verputzten Mauerwerks noch in Erinnerung. Die Fenster des Chemielabors - sicher war es das noch. Die Klassenr�ume f�r Kunsterziehung, in denen sie einmal in einer Vertretungsstunde eine junge Lehrerin mit Stinkbomben ge�rgert hatten. Sie �rgerte sich nicht und lie� die Klasse alleine in dem Gestank sitzen. Trotzdem seine liebsten Fachr�ume, sein liebstes Fach: Kunst. Hier hatte er das erste Mal dazu Kontakt, eine Idee davon bekommen, etwas, das über reines Gefallen hinausging. Ihre Jugend war vorbei. Die große Kunst war ihm nicht gelungen. Aber er war der Liebe, dem Willen zum Gestalten, zur Kreativit�t treu geblieben. Das war ihm wichtig. Als Mensch konnte er etwas schaffen - zumindest konnte er es versuchen, immer wieder, aufs Neue.

Zweihundert Meter etwa waren es von der Schule zur�ck zum Lokal. Er parkte seinen Wagen um und betrat den Biergarten vom Seiteneingang der Strasse her. In den Fenstern der Wirtschaft standen Kreidetafeln mit den wichtigsten Speisen - er las, dass ein Schweinebraten hier nur zwei Drittel des M�nchner Preises kostete. Schweinebraten - er war als Kind und Jugendlicher ein schlechter Esser gewesen - Schweinebraten mit So�e und gekochten, fr�nkischen "Kl�ss" - das liebte er. Sicher war das Bier auch gut.
Kain betrat das Lokal - im Inneren erwarteten ihn mehrere S�le, weit, mit Theken, B�nken, Tischen, alles massives Holz, die W�nde holzget�felt, dunkel gebeizt. Eine kleine Dampfmaschine stand da als Dekoration. Plakate und Bilder aus der Tradition der Brauerei an den W�nden. Wenige G�ste sa�en alleine oder in kleine Gruppen, zu zweit oder zu dritt an den Tischen - noch war es erst fr�her Abend, halb sieben.
Kain fragte einen Kellner, hier m�ssten Tische auf den Namen Struck reserviert sein. Er wurde in einen Nebenraum gewiesen, an gedeckte Tische, ein Buffet war vorbereitet. Er setzte sich, er war der Erste. Einen Kaffee bestellte er sich. Lange brauchte er nicht zu warten, bald waren sie zu viert. Harald war jetzt bei der Landesversicherungsanstalt, Markus, der fr�her alles eher auf die leichte Schulter nahm, im Vorstand einer Versicherung. Frank: Chemiker, aber in der Verwaltung eines Konzerns, Lothar Rechtsanwalt. Harald und Frank hatte sich ihre Eigenarten bewahrt, waren vertraute Gesichter geblieben, aber Kain h�tte Markus zum Beispiel nicht wieder erkannt, er musste fragen: aus Jungen, Typen, Kerlen waren gestandene M�nner geworden - sie hatten sich ausgewachsen, wirkten gesetzt, fester, ruhiger. Dann schon kam Roland Struck, ihr alter Klassensprecher, jetzt Rechtsanwalt, Mitglied der Honoratioren einer nahen Kleinstadt. Nein, ein Buffet hatte er nicht bestellt, das waren nicht ihre Tische. Also zogen sie um.
Die h�bsche junge Kellnerin - h�bsche junge Frauen nannte man in N�rnberg "adlig" - wies ihnen eine lange Tafel in einem Raum mit einer Diskothek und Tanzfl�che. Und sie nahm auch gleich ihre Bestellungen entgegen. Kain hatte Hunger und bestellte sich seinen Schweinebraten, dazu ein Bier.
Das Fragen und Erz�hlen begann, Roland, den Kain noch als guten Fu�baller und Gruppenmenschen, jahrelangen Klassensprecher, aber auch als etwas schlitzohrig und easy-going in Erinnerung hatte, Roland erz�hlte von seiner politischen Laufbahn in der konservativen Partei  und seiner Anwaltskanzlei. Kain w�rde heute bei ihm übernachten. Nach und nach trafen die Anderen ein, auch ihr Deutschlehrer und ihr katholischer Religionslehrer. Sie waren Sch�ler eines damals reinen Knabengymnasium gewesen. Dem entsprechend fehlten Frauen, es waren auch keine Ehegattinnen mit gekommen. Als Kain sein Essen serviert wurde, waren sie fast vollz�hlig. Manche hatte er nicht wieder erkannt, seine Freunde, Mitsch�ler, zu denen er engere Kontakte gehabt hatte, dann doch. Manche waren einfach Charaktere, die sich nicht ver�ndert hatten, hatten damals schon einen eigenen Charakter gehabt, der sich ihm eingepr�gt hatte - und seine Gegenüber wiedererkennbar machte. über das Wieder-Sehen seiner Freunde freute sich Kain.
Seltsam, dachte sich Kain, dass er sie heute zum ersten Male seit 25 Jahren wieder sah - auch seine Freunde von damals. Er war mit sich selbst besch�ftigt, seinen Vorhaben und Pflichten nachgegangen - sie auch. Nach dem Anderen hatte keiner gefragt, er auch nicht - an manche gedacht schon. Neun Jahre Gemeinschaft, keine Bindungen. Aber Kain war auch weggezogen, in eine andere Stadt, erst nach Regensburg, dann nach München.
Roland unterbrach die Gespr�che, er erinnerte an die, die an diesem Abend nicht mehr dabei sein konnten, allen voran an Kains Banknachbarn, Friedrich. Eine Minute gedachten sie schweigend derer, die f�r immer schwiegen. Anschlie�end berichtete Roland noch von denen, deren Verpflichtungen sie an diesem Abend fern hielten, weil sie nun in Berlin lebten oder sonst wo in der Weltgeschichte unterwegs waren.
Danach huben die Gespr�che wieder an. Allerdings hatte in der Zwischenzeit auch ein Diskjockey begonnen, f�r ein nicht vorhandenes tanzw�tiges Publikum Musik zu spielen. Laute Musik zu spielen. So begann Kain zu wandern. Er setzte sich zu den Einzelnen oder Gruppen, mit denen er sprechen wollte, selbst dann verstand er oft nur die H�lfte der Berichte und Erzählungen. Doch er erfuhr: noch einer seiner Freunde war Rechtsanwalt geworden (Nummer 3), einige waren schon die zweite Ehe (oder dritte) Ehe eingegangen. Es gab immer noch die gleichen Frotzeleien untereinander (warum auch nicht?), aus ihrer Klasse waren drei katholische Priester und ein evangelischer Pfarrer hervorgegangen (wenn er als Sohn konvertierter Eltern an die Verh�ltnisse im katholischen Religionsunterricht dachte: wow. Einer war damals schon auf diesem humanen und spirituellen  Weg  und ihm nur konsequent gefolgt, heute ein M�nch. Der, der evangelischer Pfarrer wurde - ein Engagierter.  Aber wer waren die anderen - sie wurden ihm nicht deutlich.) Drei hatten den Arztberuf gew�hlt, einer war Tiermediziner geworden. Unter den �rzten war sein liebster Kamerad, Peter, ein klarer Kerl, der sein Leben gemacht hatte. Gl�cklich verheiratet, mit Familie f�hrte er inzwischen die eigene Praxis in der N�he von Eichst�tt. Er war immer noch Filmenthusiast, aber Kain erkannte, dass sein ganzer Enthusiasmus jetzt eigentlich seinen Kindern, seiner Frau galt, und dem Arztberuf.
Nat�rlich musste auch Kain berichten. Seine missgl�ckte Karriere als Architekt, die lange Arbeitslosigkeit, jetzt sein Leben als Freiberufler in München, ledig.
Sein Deutschlehrer, der es zwischenzeitlich zum Rektor der Schule gebracht hatte, konnte sich nach 25 Jahren nicht mehr an ihn erinnern. Sein alter Religionslehrer, der immer noch Pilgerreisen organisierte, schon noch. Und so h�rte Kain Essener an diesem Abend viele Lebensgeschichten, nat�rlich nur die redigierte Kurzfassung, aber doch ein bunter Bilderbogen von einiger Bandbreite. Eigentlich hatte keiner von ihnen voll daneben gehauen, viele waren selbst�ndig oder in gehobenen Verwaltungspositionen. Aber selbst ihre Engagierten, die, die sich damals f�r eine Sache begeistert hatten, Schriftstellerei, Musik - betrieben das wohl noch als Hobbies, hatten aber grundsolide Brotberufe. Alles war gut, hatte Hand und Fu�, alles, was sie taten, war so vern�nftig, wie er sie zum Teil gar nicht in Erinnerung hatte. Ihm schien: Einzig ihm, dem damals etwas vertr�umten, aber pflichtbewussten Stilleren, waren W�nsche, Hoffnungen und Tr�ume geblieben. Nicht immer zum Guten, und manchmal als einziges.

Nat�rlich wurden Adressen gesammelt, die obligatorischen Fotos gemacht, f�r n�chstes Jahr neue Treffen angeregt. Gegen 23 Uhr dann machten sich die auf den Weg, die noch eine l�ngere Fahrt vor sich hatten. Die Gruppe wurde kleiner, doch die Gespr�che wurden angeregt bis 1 Uhr weitergef�hrt. Dann schloss das Lokal, und etwa 20 nach 1 verabschiedeten sich die letzten von ihnen unter den Kastanien des Biergartens drau�en voneinander. Roland und Kain gingen zu ihren Autos, Kain wartete mit laufendem Motor auf der Stra�e, bis sich der andere mit seinem Wagen vor ihn setzte und ihn zu seinem neu gebauten Haus am Stadtrand lotste.
Dort angekommen, tranken sie noch Rotwein, unterhielten sich bis in die Morgenstunden über Bauen, Kommunalpolitik und Politik allgemein, bevor sie zu Bett gingen.

Am n�chsten Morgen erwachte Kain von alleine und machte sich frisch. Ihm war ein G�stezimmer unter dem Dach zugewiesen worden, mit eigenem Bad. Er kleidete sich an, packte seine Sachen, und ging hinunter ins Erdgescho�, in die K�che. Er musste nicht lange warten, sein Gastgeber kam, und gemeinsam gingen sie frische Semmeln holen f�r das Fr�hst�ck. Vor der B�ckerei, die an diesem diesigen, k�hlen Oktober-Sonntagmorgen ge�ffnet hatte, begegneten sie Leuten aus der Nachbarschaft. Roland, eine bekannte Persönlichkeit, wurde begr��t, ein kurzes Gespr�ch entspann sich, dann musste noch der Hund zur�ckgepfiffen werden, den sie praktischerweise gleich zum Gassi-Gehen mitgenommen hatten.
Nach dem Fr�hst�ck, bei dem Kain auch Michael, Rolands Sohn kennen lernte, revanchierte sich Kain bei seinem Gastgeber, indem er mit in die B�roetage des Hauses kam, und dem Freund am Computer in der Kanzlei Verschiedenes einrichtete. Gegen Mittag verabschiedeten sie sich voneinander. F�r Kain begann der zweite Teil der kurzen Reise, ein Wiedersehen mit der Stadt seiner Jugend.

Bei Altenberg erreichte er die Rothenburger Strasse, heimatliches Gebiet, in diesem Ort hatte er gewohnt, von hier aus war der Weg sein Schulweg, sein Samstag-Abend-Pfad. Die Kreuzung bei F�rth-S�d, der RMD-Kanal, Kleinreuth, Schweinau, bei Gostenhof - fr�her ein "Scherbenviertel" - hatten sie die Trassenf�hrung ge�ndert, so dass er nun beim Kohlenhof am �stlichen Rand des Pl�rrers auf die Ringstrasse entlang des Frauentorgrabens stie�. Es war bedeckt, nieselte zeitweise. Wenig Verkehr. Beim Hauptbahnhof bog er ab, fuhr am K�nigstor in die Lorenzer Altstadt und hatte Gl�ck: Gleich hier an der K�nigsstra�e, vor einem Caf� fand er einen Parkplatz. Ein zweites Fr�hst�ck, ja. Eintauchen, wieder zuhause sein. Sein Ziel war eigentlich das Neue Museum f�r Design und Kunst nach 45. Und das war auch hier. Eine schmale, sandsteingemauerte Hauswand und der enge Eingang zu einer Gasse, mehr war von hier aus nicht zu sehen. Er erkundete kurz den Ort, dann ging er ins Caf�. Einfach N�rnberger Luft atmen, einen Kaffee trinken, zusammen mit anderen da sitzen, einer von vielen. Das Caf� war gut besucht.

Einen Milchkaffee und ein Croissant, eine Zigarette und ein kurzes Gespr�ch sp�ter war er so weit. Er brach auf. Der Weg war kurz. Die schmale Gasse mit einem Memento schleuste ihn auf einen Platz, der an zwei Seiten von den schlichten, aber gepflegten R�ckfassaden der umstehenden H�user gerahmt wurde. Die gegenüber liegende Seite schloss die mittelalterliche Stadtmauer. Und aus der Gasse heraus fluchtete die Glasfassade des Museumsbaues, die den Platz wie ein Spiegel aufnahm.
Sie hatten wieder einmal aus einem Gewirr von Hinterh�fen einen Stadtraum geschaffen. Bevor Kain ins Museum ging, photografierte er eine Panoramaaufnahme des Platzes von der Stadtmauer aus. Am Eingang dann gr��te ihn Andy Warhols Banane.

Das Neue Museum f�r Kunst und Design in N�rnberg Andy Warhols Banane


In der mehrere Geschosse hohen Eingangshalle schloss Kain erst einmal das, was er jetzt nicht brauchte, seine Jacke, die Kameratasche, in ein Schlie�fach. Rechts ging es zu einem Ausstellungstrakt, in dem eine Sonderausstellung gezeigt wurde. Links von ihm wandte sich eine freistehende Spindeltreppe in den Raum nach oben, verband die Galerien, die den Teil mit der Designausstellung erschlossen.
Die freundliche Frau an der Information verlangte keinen Eintritt - die Dauerausstellung des Designmuseums war am Sonntag kostenlos f�r die Besucher. Er unterhielt sich mit ihr über die N�rnberger Museumsneubauten, auch das Germanische Nationalmuseum hatte vor einigen Jahren eine Erweiterung erhalten, die Kain f�r gelungen hielt. Damals, zur Einweihung mit der großen Ausstellung der Sammlung Ludwig, war er ebenfalls nach N�rnberg gekommen.

Ein Geschoss h�her, vor der geb�rsteten und klarlackierten Rohkarosserie eines VW-K�fers, geriet Kain in eine Gruppe, die sich um eine F�hrerin scharte. Die Kunstgeschichtlerin sprach über die Entstehung des Museums, seine Intentionen. Kain schloss sich an. Und sie f�hrte sie durch die Jahrzehnte. Das Nachkriegsdeutschland, amerikanische Colaautomaten und Wurlitzer-Jukeboxes. Die ersten geschwungenen italienischen Vespas. Die 60er mit dem Schneewittchensarg von Braun. Die bunten Plastikwelten der 70er. Alles war vielf�ltig machbar. Die 80er mit ihren Versuchen, Unm�gliches, scheinbar Unsinniges machbar zu machen. Dazwischen Japanische Plakatkunst, die die Klarheit des Bauhauses mit japanischem Denken und Lebensgef�hl aus Tradition verband. Videoinstallationen, die Menschen der 90er in Bildschleifen wiedergaben. Am Schluss, nach eineinhalb Stunden Zeitreise, applaudierten alle, die mitgekommen waren, vor voll gefederten Mountain-Bikes und Roller-Blades. Kain war begeistert, fragte sich aber, warum sie die klare Schlichtheit, den Ideenreichtum im Bezug auf das wirklich Erforderliche der Bauhaus-�ra verlassen hatten. Die F�hrung war opulent gewesen. Er war angefällt mit Eindr�cken. Er wollte einen Kaffee.

Am Platz nebenan stand ein Nachbargeb�ude, in dem Verwaltungsr�ume des Museums lagen. Unten, im  Erdgeschoss, gab es ein Museumscaf�. Im Innern, neben dem Eingang, lud eine goldene Bonbon-Ecke, frei nach Beuys, die Besucher zum Zugreifen ein. Kain bestellte sich einen Cappucino, obwohl der Morgen vorbei und es bereits sp�terer Nachmittag war. Er wartete einfach, er wollte noch zur Burg, seinen Samstag-Abend-Ort aufsuchen. Aber es sollte dunkel sein. Nun sa� er einfach still. Alle, die hier waren, waren freundlich, ungetrieben. Singles, P�rchen, Familien mit Kindern. Die Bedienung. Kain trank seinen Kaffee, rauchte, versuchte einfach, so viel Zeit wie m�glich verstreichen zu lassen. Doch irgend wann wollte er weiter. Es war halb fünf. Wann w�rde es heute dunkel? Er zahlte, dankte und bediente sich an der Bonbon-Ecke.

Es war immer noch diesiges Wetter, bedeckter Himmel, als er zu seinem Auto ging und einstieg. Der Weg zur Burgseite war mit dem Auto nicht so weit. Noch immer f�hrte die Strasse durch die Innenstadt, hinunter zur Insel W�rth und hinauf auf den Burgberg. Wegen einer Baustelle konnte Kain nicht wie gewohnt direkt am Burgfelsen parken, er fand einen Parkplatz an der Strasse etwas unterhalb des Aufganges zur Burg. Eine japanische Touristengruppe kam ihm entgegen, als er bergan zur Kaiserburg stieg. Sonst waren nicht viele Menschen unterwegs. Oben angekommen, sah er sich um - der Sinwellturm, der fünfeckturm. Er ging wie gewohnt zu den Hufeisenabdr�cken, die der Ritter Eppelein von Gailingen hinterlassen haben sollte. Wie viele w�rde er heute noch finden? Es war ein alter Witz, der Raubritter, der sich von hier aus mit einem Sprung auf seinem Pferd in den Burggraben vor der N�rnberger Gerichtsbarkeit gerettet haben soll, m�sste mehrfach Anlauf genommen haben, um so viele Hufabdr�cke im verwitterten Sandstein der Burgmauer hinterlassen zu haben. Ihm gen�gte heute Abend ein Paar, das er fand, um seine H�nde darüber streichen zu lassen. Dann wandte er sich dem Vorplatz der Burg zu, einer kopfsteingepflasterten Empore, hoch über der Stadt. Vorbei an der Burgkapelle, durch den Torbogen. Dann stand er endlich auf dem Platz, von dem aus die Stadt ihm zu F�ssen lag. Er war eigentlich fast jeden Freitag oder Samstag hier gewesen, immer, wenn er konnte und von seinem Vater das Auto bekam, in seiner Schulzeit und dann auch w�hrend der Bundeswehr, sobald er den F�hrerschein hatte. Oft war er nur einfach heraufgekommen, um zu schauen, die Lokale im Burgviertel waren ihm gar nicht so wichtig gewesen, auch wenn er in manchen Kellerkneipen nachher sich noch ein Pils genehmigte oder sich mit einer Flasche Rauchbier auf den Platz vorm D�rerhaus setzte und mit GIs redete. Aber einfach nur auf die Stadt schauen, die so viel Geschichte, so viel weltliche Macht gesehen hatte, Kaiser, K�nige, auch Hitler. Die so vieles erlitten hatte, und die sie mit so viel Liebe nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut hatten. Der Hauptmarkt mit dem Christkindlesmarkt, durch dessen Wohlger�che er als Kind fasziniert an den H�nden seiner Eltern gelaufen war, das Rathaus, dessen Lochgef�ngnisse er nie besucht hatte. Der Sch�ne Brunnen, an dessen Ring er gedreht hatte. Und dr�ben Sankt Lorenz, mit dem Englischen Gru� von Veit Sto�. Der Blick reichte weiter, ins Umland der Stadt. Einfach ein Platz, um einmal über allem zu stehen. Aber es war noch nicht dunkel.

Nicht weit, drunten am Felsen war der "Burgw�chter", ein N�rnberger Traditionslokal. Er selbst war hier noch nicht essen gegangen, seine Schwester hatte ihm nach einer Fahrt hierher davon berichtet. Es war kalt, wirkte verlassen, als er durch den in den Felsen gehauenen überdachten Freibereich ging, aber eine Tafel mit Speisekarte gr��te ihn. So trat er ein, und war im Mittelalter, oder zumindest im 19. Jahrhundert. Butzenscheiben und Wohlger�che aus der K�che, nicht viele, aber große massive, schwarze Holztische. Das Lokal war leer, er w�hlte schließlich den Tisch hinten in der Ecke gegenüber dem Eingang. Hier konnte er hinausschauen und hatte das ganze Lokal im Blick. Die Wirtin kam, brachte die Karte. Er sa�, rauchte, nahm sich Zeit. schließlich bestellte er N�rnberger Bratw�rste auf Kraut mit Bratenso�e, dazu ein dunkles Bier. Die Wirtin, liebensw�rdig und gespr�chig, fragte ihn, was er so mache, und er erz�hlte ihr, dass er aus N�rnberg sei, in München wohne, heute zu Besuch sei und am Abend noch zur�ck wolle. Er erz�hlte ihr auch, auf die Nacht zu warten, um vom Burgberg aus Fotos zumachen. Sie bediente ihn mit so viel Zuvorkommen, dass er sich wie ein alter Patrizier f�hlte. Die Bratw�rste schmeckten k�stlich.
Inzwischen waren weitere G�ste eingetroffen. An diesem Abend stand auch frische Ente auf der Speisekarte. Ein �lteres Paar, das wirklich nach N�rnberger Patriziern aussah und sich auch so gab, bestellte sich davon. Kain nahm noch einen Kaffee. Langsam, langsam dunkelte es.
Als drau�en die Stra�enbeleuchtung aufleuchtete, zahle Kain Essener. Er verabschiedete sich von der netten Wirtin, versprach, wiederzukommen. Seine Kameraausr�stung geschultert, stieg er hinauf auf den Vorplatz der Burg. Hier hatten sich schon Gruppen anderer Touristen versammelt. Er stellte sich an die Br�stung, besah erst einmal die Stadt, die Kirchen, das Rathaus. So schnell w�rde sich hier nichts �ndern. Nur im Osten blinkten die Lichter eines runden Hochhausturmes, wie sie zur Zeit modern waren. Welche Verwaltungszentrale dort wohl untergebracht war. Kain begann zu fotografieren.

Sp�ter dann auf der Autobahn fuhr er in einer Kette roter Lichter, die auf zwei Spuren vor ihm leuchteten. Ihm entgegen, auch auf zwei Spuren, blitzte eine Kette wei�er Lichter, funkelnd in der Nacht durch den Schlag des Scheibenwischers hindurch. Er kam von daheim und fuhr nach Hause.

 

Klaus Gölker   ©2003   | Home |