Kain Essener und das Silberne Abitur
Am Samstag hatte Kain Essener noch Manches erledigt, was anstand, hatte zu
Mittag gekocht und gegessen. Dann packte er f�r eine Nacht - die Kameras nicht
vergessen - sein Auto hatte er schon vorbereitet, gereinigt, waschen lassen,
getankt. Gegen half fünf belud er dann seinen Wagen. Er erreichte die Autobahnauffahrt und f�delte sich mit seinem italienischen Kleinwagen in den flie�enden Verkehr ein. Vor ihm ein Benz mit einem offenen Anh�nger, über dessen Ladefl�che nach hinten ein Eisenträger mit rotem Wimpel dran wippend hinausragte. Noch war das Tempo auf 80 km/h beschr�nkt, doch Kain überholte. Direkt eilig hatte er es nicht, aber je eher er die Autobahnfahrt hinter sich brachte, desto besser. W�rde es ein Abiturtreffen werden, wie es so oft in Filmen dargestellt wurde: mein Haus, mein Mercedes, meine Frau? Zu welchen Persönlichkeiten hatten sich seine Klassenkameraden entwickelt? Sein eigener Lebensweg war widerspr�chlich verlaufen, mit L�ngen und Tiefen - und wenigen H�hen. Erst jetzt ging es ihm beruflich und Persönlich wieder etwas besser, erst jetzt hatte er bescheidene Erfolge. Aber bevor er soweit kam, hatte er seine Lebensplanung von damals v�llig revidieren m�ssen, den einst angestrebten und durch ein Studium erworbenen Beruf aufgeben m�ssen und etwas Anderes, Neues begonnen. Kain fuhr nun schneller als 120 km/h. Er sp�rte eine Unwucht der Vorderr�der seines Wagens, das Lenkrad bebte in seinen H�nden. Er fasste fester zu, beschleunigte aber auch im 5. Gang langsam weiter. In N�rnberg war er groß geworden. Eigentlich war er in einem
Vorort aufgewachsen,
einer Gemeinde 9 Kilometer vom Stadtzentrum, mit weiten Feldern vorm Haus
seiner Eltern. Aber in der Stadt hatte er begonnen, bewusster, selbst�ndiger zu
werden. Hier erlebte er Freiheiten. Er liebte diese Stadt mit ihrer markanten ,
vielf�ltigen Topografie, ihren vielen Pl�tzen und Winkeln, die er auf seinen
Streifz�gen entdeckte und erkundete. Inzwischen hatte Kain Essener die Raffinerien bei Ingolstadt hinter sich gelassen. Nur eine kurze Pause am Parkplatz oberhalb des Gredinger Berges. Bisher hatte er mit dem Wetter Gl�ck, zumindest war es trocken. Bald fuhr er wieder im 5. Gang, zusammen mit anderen raste er durchs sch�ne Altm�hltal. Sein Banknachbar von damals w�rde nicht mehr dabei sein, wenn sie sich trafen. Jahrelang hatten sie eine Bank geteilt, die Zeit in der Schule und auch die Freizeit mancher Nachmittage gemeinsam verbracht. Gemeinsam hatten sie eine Liebe zur Fotografie, er hatte sich beim Kauf seiner ersten "richtigen" Kamera vom anderen beraten lassen. Manchmal gingen sie gemeinsam auf Fotosafari. V�llig unvorhergesehen war der andere vor zwei Jahren gestorben. Einer, der nicht mehr kommen w�rde. Hinter Greding begann ein feiner Nieselregen, als hingen silberne Bindf�den vom Himmel, die der Scheibenwischer mit klappenden Bewegungen zur Seite schob, wieder und wieder. Es h�rte nicht auf, Altdorf, Feucht, Kain bog ab auf den Stadtzubringer. Die nie besuchte Tankstelle an der Autobahnauffahrt, die Hochh�user der Trabantenstadt Langwasser. Kain hatte die Stadt erreicht, fuhr durch die S�dstadt, Bahnanlagen, Gewerbebauten, nicht sch�n, aber ordentlich. Hinter dem Hauptbahnhof an den Gleistrassen entlang, durch die Unterf�hrung, und er war am Frauentorgraben, auf dem Vorplatz des neu renovierten Hauptbahnhofes. An der Stadtmauer entlang nach Westen, die Oper, der Pl�rrer, hinein in die F�rther Strasse, die jenseits der Stadtgrenze dann N�rnberger Strasse hie� und die beiden St�dte wie zu einer verband. Seit dem Bau der U-Bahn hatte sich hier einiges ge�ndert, war, wieder, gepflegter geworden, mit Schr�gparkern und neuer Baumbepflanzung vor den Gründerzeitfassaden. Er musste schauen, suchen, bis er die Strasse fand, die zur Schule f�hrte. Das D�rer-Gymnasium,
seine alte Schule, hatte eine besondere Lage. Am Hochufer des Pegnitzgrundes,
über dem Westbad, ja. Aber fr�her war auf der einen Seite eine großbrauerei, auf
der anderen Seite grenzte der Schulhof, abgeschirmt von einer 8 Meter hohen
Betonmauer, an die N�rnberger Justizvollzugsanstalt. Oft hatten sie im Scherz
ger�tselt, wer nun eingesperrt sei, vom Balkon des Musiksaales unter dem Dach
konnten sie manchmal Gefangenen zuwinken, die von ihren vergitterten Fenstern
aus herübersp�hten. Derweilen verpestete die M�lzerei auf der anderen Seite die
Luft mit ihrem Gestank. Die großbrauerei war im Brauereisterben aufgegeben
worden, nun stand an ihrer Stelle ein Gartenlokal, mit einem großen Biergarten,
der nun, im Herbst, bei diesem Nieselregen verlassen lag. Hier im Lokal hatte
ihr Klassensprecher Tische reservieren lassen. Zweihundert Meter etwa waren es von der Schule zur�ck zum
Lokal. Er parkte seinen Wagen um und betrat den Biergarten vom Seiteneingang der
Strasse her. In den Fenstern der Wirtschaft standen Kreidetafeln mit den
wichtigsten Speisen - er las, dass ein Schweinebraten hier nur zwei Drittel des
M�nchner Preises kostete. Schweinebraten - er war als Kind und Jugendlicher ein
schlechter Esser gewesen - Schweinebraten mit So�e und gekochten, fr�nkischen "Kl�ss"
- das liebte er. Sicher war das Bier auch gut. Nat�rlich wurden Adressen gesammelt, die obligatorischen
Fotos gemacht, f�r n�chstes Jahr neue Treffen angeregt. Gegen 23 Uhr dann
machten sich die auf den Weg, die noch eine l�ngere Fahrt vor sich hatten. Die
Gruppe wurde kleiner, doch die Gespr�che wurden angeregt bis 1 Uhr
weitergef�hrt. Dann schloss das Lokal, und etwa 20 nach 1 verabschiedeten sich
die letzten von ihnen unter den Kastanien des Biergartens drau�en voneinander.
Roland und Kain gingen zu ihren Autos, Kain wartete mit laufendem Motor auf der
Stra�e, bis sich der andere mit seinem Wagen vor ihn setzte und ihn zu seinem neu gebauten Haus am Stadtrand lotste. Am n�chsten Morgen erwachte Kain von alleine und machte sich
frisch. Ihm war ein G�stezimmer unter dem Dach zugewiesen worden, mit eigenem
Bad. Er kleidete sich an, packte seine Sachen, und ging hinunter ins Erdgescho�,
in die K�che. Er musste nicht lange warten, sein Gastgeber kam, und gemeinsam
gingen sie frische Semmeln holen f�r das Fr�hst�ck. Vor der B�ckerei, die an
diesem diesigen, k�hlen Oktober-Sonntagmorgen ge�ffnet hatte, begegneten sie
Leuten aus der Nachbarschaft. Roland, eine bekannte Persönlichkeit,
wurde begr��t, ein kurzes Gespr�ch entspann sich, dann musste noch der Hund
zur�ckgepfiffen werden, den sie praktischerweise gleich zum Gassi-Gehen
mitgenommen hatten. Bei Altenberg erreichte er die Rothenburger Strasse, heimatliches Gebiet, in diesem Ort hatte er gewohnt, von hier aus war der Weg sein Schulweg, sein Samstag-Abend-Pfad. Die Kreuzung bei F�rth-S�d, der RMD-Kanal, Kleinreuth, Schweinau, bei Gostenhof - fr�her ein "Scherbenviertel" - hatten sie die Trassenf�hrung ge�ndert, so dass er nun beim Kohlenhof am �stlichen Rand des Pl�rrers auf die Ringstrasse entlang des Frauentorgrabens stie�. Es war bedeckt, nieselte zeitweise. Wenig Verkehr. Beim Hauptbahnhof bog er ab, fuhr am K�nigstor in die Lorenzer Altstadt und hatte Gl�ck: Gleich hier an der K�nigsstra�e, vor einem Caf� fand er einen Parkplatz. Ein zweites Fr�hst�ck, ja. Eintauchen, wieder zuhause sein. Sein Ziel war eigentlich das Neue Museum f�r Design und Kunst nach 45. Und das war auch hier. Eine schmale, sandsteingemauerte Hauswand und der enge Eingang zu einer Gasse, mehr war von hier aus nicht zu sehen. Er erkundete kurz den Ort, dann ging er ins Caf�. Einfach N�rnberger Luft atmen, einen Kaffee trinken, zusammen mit anderen da sitzen, einer von vielen. Das Caf� war gut besucht. Einen Milchkaffee und ein Croissant, eine Zigarette und ein
kurzes Gespr�ch sp�ter war er so weit. Er brach auf. Der Weg war kurz. Die
schmale Gasse mit einem Memento schleuste ihn auf einen Platz, der an zwei
Seiten von den schlichten, aber gepflegten R�ckfassaden der umstehenden H�user gerahmt
wurde. Die gegenüber liegende Seite schloss die mittelalterliche Stadtmauer. Und
aus der Gasse heraus fluchtete die Glasfassade des Museumsbaues, die den Platz
wie ein Spiegel aufnahm.
Ein Geschoss h�her, vor der geb�rsteten und klarlackierten Rohkarosserie eines VW-K�fers, geriet Kain in eine Gruppe, die sich um eine F�hrerin scharte. Die Kunstgeschichtlerin sprach über die Entstehung des Museums, seine Intentionen. Kain schloss sich an. Und sie f�hrte sie durch die Jahrzehnte. Das Nachkriegsdeutschland, amerikanische Colaautomaten und Wurlitzer-Jukeboxes. Die ersten geschwungenen italienischen Vespas. Die 60er mit dem Schneewittchensarg von Braun. Die bunten Plastikwelten der 70er. Alles war vielf�ltig machbar. Die 80er mit ihren Versuchen, Unm�gliches, scheinbar Unsinniges machbar zu machen. Dazwischen Japanische Plakatkunst, die die Klarheit des Bauhauses mit japanischem Denken und Lebensgef�hl aus Tradition verband. Videoinstallationen, die Menschen der 90er in Bildschleifen wiedergaben. Am Schluss, nach eineinhalb Stunden Zeitreise, applaudierten alle, die mitgekommen waren, vor voll gefederten Mountain-Bikes und Roller-Blades. Kain war begeistert, fragte sich aber, warum sie die klare Schlichtheit, den Ideenreichtum im Bezug auf das wirklich Erforderliche der Bauhaus-�ra verlassen hatten. Die F�hrung war opulent gewesen. Er war angefällt mit Eindr�cken. Er wollte einen Kaffee. Am Platz nebenan stand ein Nachbargeb�ude, in dem Verwaltungsr�ume des Museums lagen. Unten, im Erdgeschoss, gab es ein Museumscaf�. Im Innern, neben dem Eingang, lud eine goldene Bonbon-Ecke, frei nach Beuys, die Besucher zum Zugreifen ein. Kain bestellte sich einen Cappucino, obwohl der Morgen vorbei und es bereits sp�terer Nachmittag war. Er wartete einfach, er wollte noch zur Burg, seinen Samstag-Abend-Ort aufsuchen. Aber es sollte dunkel sein. Nun sa� er einfach still. Alle, die hier waren, waren freundlich, ungetrieben. Singles, P�rchen, Familien mit Kindern. Die Bedienung. Kain trank seinen Kaffee, rauchte, versuchte einfach, so viel Zeit wie m�glich verstreichen zu lassen. Doch irgend wann wollte er weiter. Es war halb fünf. Wann w�rde es heute dunkel? Er zahlte, dankte und bediente sich an der Bonbon-Ecke. Es war immer noch diesiges Wetter, bedeckter Himmel, als er zu seinem Auto ging und einstieg. Der Weg zur Burgseite war mit dem Auto nicht so weit. Noch immer f�hrte die Strasse durch die Innenstadt, hinunter zur Insel W�rth und hinauf auf den Burgberg. Wegen einer Baustelle konnte Kain nicht wie gewohnt direkt am Burgfelsen parken, er fand einen Parkplatz an der Strasse etwas unterhalb des Aufganges zur Burg. Eine japanische Touristengruppe kam ihm entgegen, als er bergan zur Kaiserburg stieg. Sonst waren nicht viele Menschen unterwegs. Oben angekommen, sah er sich um - der Sinwellturm, der fünfeckturm. Er ging wie gewohnt zu den Hufeisenabdr�cken, die der Ritter Eppelein von Gailingen hinterlassen haben sollte. Wie viele w�rde er heute noch finden? Es war ein alter Witz, der Raubritter, der sich von hier aus mit einem Sprung auf seinem Pferd in den Burggraben vor der N�rnberger Gerichtsbarkeit gerettet haben soll, m�sste mehrfach Anlauf genommen haben, um so viele Hufabdr�cke im verwitterten Sandstein der Burgmauer hinterlassen zu haben. Ihm gen�gte heute Abend ein Paar, das er fand, um seine H�nde darüber streichen zu lassen. Dann wandte er sich dem Vorplatz der Burg zu, einer kopfsteingepflasterten Empore, hoch über der Stadt. Vorbei an der Burgkapelle, durch den Torbogen. Dann stand er endlich auf dem Platz, von dem aus die Stadt ihm zu F�ssen lag. Er war eigentlich fast jeden Freitag oder Samstag hier gewesen, immer, wenn er konnte und von seinem Vater das Auto bekam, in seiner Schulzeit und dann auch w�hrend der Bundeswehr, sobald er den F�hrerschein hatte. Oft war er nur einfach heraufgekommen, um zu schauen, die Lokale im Burgviertel waren ihm gar nicht so wichtig gewesen, auch wenn er in manchen Kellerkneipen nachher sich noch ein Pils genehmigte oder sich mit einer Flasche Rauchbier auf den Platz vorm D�rerhaus setzte und mit GIs redete. Aber einfach nur auf die Stadt schauen, die so viel Geschichte, so viel weltliche Macht gesehen hatte, Kaiser, K�nige, auch Hitler. Die so vieles erlitten hatte, und die sie mit so viel Liebe nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut hatten. Der Hauptmarkt mit dem Christkindlesmarkt, durch dessen Wohlger�che er als Kind fasziniert an den H�nden seiner Eltern gelaufen war, das Rathaus, dessen Lochgef�ngnisse er nie besucht hatte. Der Sch�ne Brunnen, an dessen Ring er gedreht hatte. Und dr�ben Sankt Lorenz, mit dem Englischen Gru� von Veit Sto�. Der Blick reichte weiter, ins Umland der Stadt. Einfach ein Platz, um einmal über allem zu stehen. Aber es war noch nicht dunkel. Nicht weit, drunten am Felsen war der "Burgw�chter",
ein N�rnberger Traditionslokal. Er
selbst war hier noch nicht essen gegangen, seine Schwester hatte ihm nach einer
Fahrt hierher davon berichtet. Es war
kalt, wirkte verlassen, als er durch den in den Felsen gehauenen überdachten
Freibereich ging, aber eine Tafel mit Speisekarte gr��te ihn. So trat er ein,
und war im Mittelalter, oder zumindest im 19. Jahrhundert. Butzenscheiben und
Wohlger�che aus der K�che, nicht viele, aber große massive, schwarze Holztische.
Das Lokal war leer, er w�hlte schließlich den Tisch hinten in der Ecke gegenüber
dem Eingang. Hier konnte er hinausschauen und hatte das ganze Lokal im Blick.
Die Wirtin kam, brachte die Karte. Er sa�, rauchte, nahm sich Zeit. schließlich
bestellte er N�rnberger Bratw�rste auf Kraut mit Bratenso�e, dazu ein dunkles
Bier. Die Wirtin, liebensw�rdig und gespr�chig, fragte ihn, was er so mache, und
er erz�hlte ihr, dass er aus N�rnberg sei, in München wohne, heute zu Besuch sei
und am Abend noch zur�ck wolle. Er erz�hlte ihr auch, auf die Nacht zu warten,
um vom Burgberg aus Fotos zumachen. Sie bediente ihn mit so viel Zuvorkommen,
dass er sich wie ein alter Patrizier f�hlte. Die Bratw�rste schmeckten k�stlich. Sp�ter dann auf der Autobahn fuhr er in einer Kette roter Lichter, die auf zwei Spuren vor ihm leuchteten. Ihm entgegen, auch auf zwei Spuren, blitzte eine Kette wei�er Lichter, funkelnd in der Nacht durch den Schlag des Scheibenwischers hindurch. Er kam von daheim und fuhr nach Hause.
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