Kain Essener: Ein Hundstag als Komparse



Abends zuvor hatte er den Anruf von der Casting-Agentur erhalten: ob er am nächsten Tag Zeit habe, ob er als Komparse bei einer Comedy-Serie mitmachen wolle. Er hatte und wollte. Nicht zuletzt, weil es dafür hundert Mark geben sollte. Er war arbeitslos. Das Geld kam ihm gerade recht.
    Also stand er an diesem Spätsommertag um acht Uhr auf. Morgentoilette, danach Frühstück, Müsli pur und Kaffee, wie gewohnt. Die erste Zigarette. Das Wetter versprach, erträglich zu werden, wenn auch schon etliche Wolken am Himmel standen. Wenigstens nicht so heiß. Er sammelte seine Sportsachen ein, Trainingsanzug und Turnschuhe. Die sollte er mitbringen. Er wusste nicht genau, was ihn erwartete. Die Auskünfte über die Dreharbeiten, über den Inhalt des Sketches, an dem er mitwirken sollte, waren vage, ausweichend gewesen. Er wusste, es war für eine Comedy-Show auf RTL II. Selbst hatte er kein Kabelfernsehen, er hatte die Show noch nie gesehen, kannte die Hauptakteure nicht. Eigentlich war es ihm auch gleich. Für einen Tag hatte er etwas vor, wäre außer Haus, würde etwas erleben.
    So fuhr er mit seinem Auto los, von seiner Wohnung im münchner Nordosten, quer durch die Stadt, an der Isar entlang, Richtung Tiergarten Hellabrunn und dann noch ein Stück weiter, zum Hinterbrühler Weiher bei der Floßlände. Er mochte diese Route, sie führte unter Baumalleen am Fluss entlang.
    Als er ankam, fand er zwar einen offenen Wohnwagen und Transporter der Filmfirma, zu sehen aber war niemand. Lange brauchte er nicht zu warten. Eben wollte er es sich in einem Campingklappstuhl bequem machen, der etwas abseits der Fahrzeuge am Ufer eines Seitenkanals der Isar stand, neben dem Tisch mit den Kaffeespendern, Tassen und Besteck. Ein Kombi kam angefahren, ein junger Mann, noch keine dreißig Jahre alt, stieg aus, kam auf ihn zu. Ob er einer der Komparsen sei?, wurde Kain gefragt. Er bejahte, stellte sich vor. Der andere war der Produktionsleiter, der gerade Frühstück geholt hatte. Weiter erfuhr Kain, dass die Crew gerade einen Sketch weiter hinten im Gelände abdrehe, für den die Komparsen noch nicht gebraucht würden. Sie kämen erst später zum Einsatz, ab elf Uhr solle er sich bereit halten. Wenn er frühstücken wolle, dafür seien die Semmeln und der Kaffee gedacht. Kain war froh darüber, sein Magen hatte sich bereits wieder gemeldet. Außerdem hatte er so etwas zu tun, um sich die Wartezeit zu verkürzen, es war noch eine gute Stunde bis elf.
    In der Zwischenzeit waren auch seine Kollegen Komparsen dazugekommen. Einer, der noch vor Kain eingetroffen war und es sich am Ufer des Weihers bequem gemacht hatte, kam herüber, als der Produktionsleiter eintraf. Wenig später fand sich auch der Dritte ein. Ersterer war jung, noch keine fünfundzwanzig, mittelgroß, drahtig, ein sportlicher Typ. Der zweite: klein, nicht nur untersetzt, sondern schlicht dick, mit Halbglatze und Stoppelbart, vielleicht fünfunddreißig Jahre alt. Für Kain sah es aus, als wäre dieser eben mit Gewalt aus dem Bett gezerrt worden. Sie stellten sich einander kurz vor, und während Karl, der Erste, ein Gespräch mit Kain begann, zog sich Kurt, der Dicke, mit seinem Handy zurück und telefonierte in einem fort. Nicht nur, dass er anrief, er wurde auch angerufen. In einer Pause zwischen zwei Telefongesprächen erklärte er ihnen beiden, dass er eine Fuhrunternehmung habe und seine Geschäfte auf diese Weise führe. Aber das Geld als Komparse kannst du auch brauchen, musste Kain Essener denken.
    Als sich der Jüngere wieder zum Sonnen an den Weiher legte, blieb Kain alleine zurück, aß eine der Semmeln mit kaltem Braten und trank dazu Kaffee. Er hatte es sich inzwischen in besagtem Campingstuhl bequem gemacht und genoss die kühle Frische dieses Spätsommervormittages. Ruhe war wieder eingekehrt.

    Um elf war es aus damit. Die Requisiteurin kam, rief sie alle zusammen. Jeder wurde begutachtet, auch das, was sie an Sportsachen mitgebracht hatten. Kain Esseners Trainingsanzug missfiel ihr. Zum einen die Farbe, ein Karminrosa mit türkisen Einsätzen, besonders aber, dass darauf der Name des Herstellers in großen Lettern prangte. Sie wollte ihm etwas anderes geben. Gegen seine Turnschuhe hatte sie zum Glück nichts einzuwenden.
    Bisher hatte niemand ihnen Dreien näher erklärt, was eigentlich ihre Rolle sei. Auf ihre Fragen musste nun die Requisiteurin antworten. Sie seien als Männchen vorgesehen, die von ihren Frauchen Gassi geführt würden, die sich aber dabei emanzipieren. Dazu bekämen sie zu ihren Trainingsanzügen auch noch eine Art Hundegeschirr angelegt. Damit war es heraus. Ach ja, die Frauchen würden von den zwei männlichen Hauptdarstellern der Show gespielt. Kain sah schwarz. Das konnte ja noch etwas werden.
    Zunächst einmal ging es ans Umziehen, wozu sie in den Wohnwagen stiegen, der als Requisitenraum und Garderobe diente. Als sie damit fertig waren, kam die Requisiteurin wieder und legte jedem sein Hundegeschirr mit Halsband und Hüftriemen an. Kain drückte sie die eigene Hundeleine in die Hand. Dann war es auch schon Zeit zum Mittagessen, der Caterer kam, die Crew wurde gerufen und alle setzten sich auf inzwischen vom Produktionsleiter herbeigeschaffte Bierbänke an einen Tisch.
    Zum ersten Mal sah Kain nun auch die Hauptakteure der Show, die ihn und die anderen Komparsen kurz mit Handschlag begrüßten. Jetzt wurde ihnen auch nochmals der Hergang des geplanten Sketches erläutert. Die beiden Hauptakteure spielten Doppelrollen. Zum einen jeweils zwei Frauen, die sich beim Gassi-Führen ihrer Männchen hier am Weiher begegnen, zum anderen auch die ausgeführten Männchen, die bei dieser Gelegenheit Freundschaft schlossen. Der Sketch sollte so enden, dass sich die beiden durch ihre Freundschaft von ihren Frauchen emanzipierten, eine Band gründeten und mit ihrer Musik anderen Männchen wieder Mut gaben. Diese anderen Männchen, die in der Schlussszene zur Musik der beiden vor ihnen tanzen, sollten von den Komparsen dargestellt werden. Wenn Kain es richtig empfand, dann kam nicht nur er sich blöde vor beim Gedanken an die ihm zugedachte Rolle, auch Karl, sein junger Kollege, schien sich nicht allzu wohl zu fühlen bei dem, was ihnen bevorstand. Alle anderen hielten es aber wohl für einen tollen Einfall.
    Nach dem Essen wurden sie an den Drehort geführt, vielleicht hundert Meter entfernt an den Uferweg am Weiher. Wieder hieß es warten. Sie setzten sich auf die Parkbänke dort, nicht zu nahe am eigentlichen Schauplatz der Dreharbeiten. Für Kain Essener war es nicht der erste Tag auf einem Set. Es wurde sein längster. Die erste Szene wurde geprobt, wieder geprobt, nochmals geprobt. Dann, endlich ...timeline...action! - wurde gedreht. Nochmal das ganze. OK, im Kasten, auf zur nächsten. Und wieder proben, und wieder drehen. Die Hauptdarsteller mussten sich umziehen, wegen ihrer wechselnden Rollen, raus aus ihren Trainingsanzügen, rein in die Frauenkleider. Maske, Makeup, Lippenstift. Kain saß auf seiner Bank. Die Zeit begann sich zu ziehen wie ein ausgekauter Kaugummi. Eine Zigarette folgte der anderen. Er unterhielt sich mit Karl, was dieser so mache. Am Theater, in der Requisite arbeitete er. Sein Studium hatte er abgebrochen. Hatte ein eigenes Geschäft, eine Unternehmung in der freien Wirtschaft angefangen, etwas mit Betriebsberatung, Betriebswirtschaft. Harte Zeiten seien es. Karl wurde wieder weggerufen, musste einen der Hauptakteure in seiner Frauchen-Rolle doublen. Kehrte wieder, im hellen Sommerkostüm, Pumps, mit Perücke. Kain drehte seine Hundeleine in der Hand.
    Parallel zum Uferweg führte ein zweiter, nur getrennt davon durch eine Baum- und Buschreihe, und die Bänke. Spaziergänger, die vorbeikamen, blieben stehen - was geschieht denn hier?,- schauten zu. Kain sah ihnen beim Zuschauen zu.
    Es war halb fünf, als die Zeit kaum noch verging. Da wurde er erlöst. Die Komparsen wurden zusammengerufen, bekamen nochmals Instruktionen. Es wurde geprobt, sie wurden auf den Weg geführt, mussten sich losreißen, auf die Band der beiden Hauptdarsteller zurennen - erste Szene. Zwei Einstellungen wurden gedreht, dann war das im Kasten. Noch eine Szene. Die Komparsen sollten vor der Band tanzen, während die so tat, als ob sie spielen würde. Zu keiner Musik zu tanzen, war gar nicht so einfach. Besonders Kurt, der Dicke, tat sich dabei hervor. Alle waren begeistert von seinem Drive, von der Energie, mit der er tanzte.
    Dann war es überstanden. Fast sieben Stunden warten für eine halbe Stunde Action. Beim Film sei das eben so. Mochte ja sein, bloß raus aus dieser Aufmachung.
    Eines blieb noch - der Lohn der Pein. Soweit er wisse, seien hundert Mark mit der Agentur vereinbart gewesen, meinte der Produktionsleiter. Nein, uns waren hundertzwanzig Mark zugesagt worden. Alle drei Komparsen standen wie ein Mann dafür gerade. Zwar hatte er das Handy schon in der Hand, um bei der Agentur anzurufen, doch dann überlegte es sich der Produktionsleiter doch anders und zahlte. Die wohl überzeugendste darstellerische Leistung der Komparserie an diesem Tage.

    Für Kain Essener war der Tag noch nicht zu Ende. Endlich konnte er sich etwas außer der Reihe leisten, den neuen Flugsimulator. Wie gut, dass auf seinem Heimweg ein Elektro-Großmarkt lag, der damit warb, dass die, die bei ihm einkauften, nicht blöd seien. Außerdem suchte er einen Rahmen für einen Fotoausdruck - auch das hatten sie dort. So parkte er sein Auto in der Tiefgarage des Kaufhauses und fuhr mit dem Aufzug in die Geschäftsetage. Er trug immer noch seine Turnschuhe - eigentlich waren es Basketball-Schuhe, für Sporthallenböden gedacht. Sie waren wenig getragen, in Turnhallen war er lange nicht mehr gekommen - und auch früher nur selten. So zehn Jahre mochte er sie schon haben.
    Im Geschäft besorgte er sich als erstes den Flugsimulator, dann sah er nach dem Bilderrahmen. Er suchte sich solche aus, die ihm gefielen, sah dann die Preise, suchte wieder, jetzt nach solchen, die ihm gefielen und deren Preis zu zahlen er bereit war. Er ging in die Hocke, forschte in den unteren Regalreihen, legte die ausgewählten Rahmen vor sich aus, besah sie, suchte weiter, hockte wieder, entschloss sich für einen, sortierte die anderen zurück in die Regale.
    Als er gehen wollte, fielen ihm gräulich-weiße Flocken auf dem grauen Filzboden auf. Was war das? Sie schienen unter seinen Füssen hervor zu kommen. Kain stützte sich an einer Säule ab und besah sich seine Schuhsohlen, ob er in etwas getreten sei. Seine Schuhsohlen lösten sich auf! Das ging doch hier nicht mit rechten Dingen zu! Heute morgen, den ganzen Tag über waren die Schuhe doch in Ordnung gewesen. Was hatte er kürzlich im Fernsehen gehört, über Lösungsmittel im Kleber für Teppichböden? War hier ein Lösungsmittel angewandt worden, das den Kunststoff seiner Turnschuhsohlen angegriffen hatte? Er verlangte nach dem Geschäftsführer.
    Es dauerte etwas, bis er jemand vom Geschäft fand, seinen Wunsch verständlich machen konnte. Endlich wurde der stellvertretende Geschäftsführer geholt. Diesem schilderte Kain nochmals die Situation aus seiner Sicht, dass er hier durch eine Nachlässigkeit oder Fahrlässigkeit oder auch nur ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen geschädigt worden sei und einen Ausgleich verlange. Auf die Frage, was er sich denn vorstelle, antwortete Kain, er hätte gerne einen Nachlass von fünfzig Prozent auf den Flugsimulator, als Beihilfe zu neuen Turnschuhen. Nicht zuletzt, um größeres Aufsehen zu vermeiden, willigte der Stellvertreter ein, und Kain erhielt einen Preisnachlass in der gewünschten Höhe. So zahlte er an der Kasse und fuhr wieder in den Orkus der Tiefgarage. Er schloss die Türe zu seinem Auto auf - und erschrak, denn auf dem Boden vor dem Fahrersitz lagen ebensolche Kunststoffflocken, wie sie seine Schuhe im Geschäft verloren hatten. Jetzt schämte er sich auch, denn er hatte im Geschäft sehr laut getönt und auf seinem vermeintlichen Recht bestanden, obwohl er sich der Richtigkeit seiner eigenen Version der Dinge nicht ganz sicher war. Er hatte es eben versucht, mit so einer Geschichte durchzukommen. Nun jedoch hatte er den untrüglichen Beweis für die Falschheit seiner Annahmen. Also wieder hinauf in die Verkaufsräume. Der stellvertretende Geschäftsführer war noch in der Nähe. Kain ging geradewegs auf ihn zu, entschuldigte sich und sagte, wie sich alles wirklich verhielt, - er wolle den vollen Preis für das gekaufte Gut zahlen. Der andere reichte ihm die Hand, sagte, für ihn sei es ok und verabschiedete sich von Kain, um sich erneut einem Gesprächspartner zuzuwenden, mit dem er gesprochen hatte, als Kain wieder erschienen war.
    Verblüfft und etwas beschämt über sich selbst, seine Raffgier, verließ Kain Essener den Laden. Blöd war er nicht. Größe hatte der andere bewiesen.

    Kain Essener kaufte sich an diesem Abend noch neue Turnschuhe. Noch später, zuhause dann, hob er ab.




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