Kain Essener und die magische Zahl

 

Er traf die Apothekerin aus dem Haus an der Bushaltestelle.
Heute war Silvester 1999 auf das Jahr 2000, und anders als in den Jahren zuvor war er heute allein. Umso mehr freute ihn, ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Sie gr��ten sich und stellten im Gespr�ch fest, das ihr Ziel das Gleiche war: Jenes große Stra�enfest anl�sslich des Jahreswechsels mit der magischen Zahl, das die Stadt München ihren Bewohnern und Besuchern auf der Ludwigstra�e zwischen Odeonsplatz und Siegestor bereitete.
Sein Gegenüber war heute schon unterwegs gewesen, hatte Sch�nes erlebt, in einem Konzert in der Philharmonie, von dem sie mit Begeisterung berichtete. Auch zum Stra�enfest hatte sie geschaut. Was sie davon zu berichten wusste, lie� ihn zunächst zur�ckschrecken: Ein Massenauflauf, nur ein Gedr�nge, in dem man nicht vom Fleck kam. Er wolle die Musik Hören, die dort auf den B�hnen gespielt wurde? Das k�nne er getrost vergessen. Er wolle auch das Feuerwerk anschauen? Dann solle er mit ihr kommen.
Eine Station in dieser kalten Winternacht mit dem Bus, der endlich kam, dann stiegen sie im Gespr�ch hinunter und in die U-Bahn. Ihr Dialog geriet ins Stocken, so gut kannten sie sich nicht, er hatte nicht so viel zu sagen, beobachtete die vielen Menschen, die, wie sie beide, ungew�hnlich f�r die Tageszeit, elf Uhr nachts, hier unterwegs waren. Offensichtlich hatten alle das selbe Ziel wie er und seine Begleiterin. Und tats�chlich leerte sich der Wagon, als sie an der Station Lehel ausstiegen.
Menschentrauben drangen aus den W�gen, die Rolltreppe hinauf, sie beide mitten darinnen. Oben angekommen, fanden sie die Stra�e bereits dicht bev�lkert. Alle strebten in die selbe Richtung wie auch sie, sie gingen inmitten der Anderen Richtung Prinzregentenstra�e, Haus der Kunst.
Kalte, schwarze Nacht, er ging, eine Flasche Sekt und eine Schachtel Gl�ser im Rucksack, inmitten aller, über festgetretenen Schnee.
Mit dem Haus der Kunst wurde auch die Menschenmenge erkennbar, von der die Apothekerin berichtet hatte. Eine riesige Ansammlung - wie beschriebe er es anders als einen Teppich von H�uptern, der sich da geschlossen vor ihm ausbreitete. Sie standen auf den Grünfl�chen zwischen Staatskanzlei und Prinz-Karl-Palais, hinüber in den Hofgarten, den Altstadtring zur Ludwigstra�e hinein.
Mit etwas Gl�ck fanden sie Platz auf der Unterf�hrung, in der die Prinzregentenstra�e unter dem Prinz-Carl-Palais wegtaucht, ein st�dtebauliches Unikum, wie Kain jedes Mal dachte, wenn er hineinfuhr. Wo wurde einem sonst Gelegenheit gegeben, vor dem Amtssitz des Ministerpr�sidenten in den Untergrund zu gehen?
Heute stand er jedoch über den Dingen und stellte erst einmal seinen Rucksack ab. Sie hatten es mit dem Rat seiner Begleiterin nicht schlecht getroffen. Vor ihnen lag der Hofgarten, über dem das Hochfeuerwerk aufsteigen sollte. Um sie herum waren nicht gar so viele Menschen wie etwa auf der Stra�enseite gegenüber. Sie konnten sich sogar auf den Absatz der Gel�nderbr�stung hinter ihnen setzen, zumindest anlehnen.
Kain sah sich um. Unter den Kolonaden am Haus der Kunst, vor dem Caf� gegenüber, auf der Stra�e, überall Menschen. Einzige Fahrzeuge die der Polizei - und Sanit�tsw�gen, die sich ihren Weg bahnen mussten. Winter, kalt, Schnee, die Nacht sternenklar, auch wenn sie hier im Schein der Stadt nicht viele Himmelslichter zu Angesicht bekamen. Der Englische Garten ganz nah.
Seine Gedanken gingen spazieren. Seiner Begleiterin erz�hlte er von Italien, seiner Sehnsucht nach der W�rme, nach der Toskana, davon, wie er Florenz gesehen hatte. Die Feuerwerker, welche hier in München das Schauspiel f�r sie geben w�rden, waren Italiener.
Immer noch mehr Menschen str�mten hier zusammen. über dem Generalkonsulat dort dr�ben wehte die amerikanische Flagge. Dann war es kurz vor zw�lf und er damit besch�ftigt, seinen spanischen Lieblingssekt zu entkorken, dessen Pfropf bei der K�lte hier besonders fest sa�. Vorher hatte er bereits seine Gl�ser ausgepackt, eines an seine Begleiterin gereicht, die ganz entz�ckt von deren Form war, und eines f�r sich selbst bereit gestellt. Er wollte es nicht zu fr�h knallen lassen - knallen sollte es schon! Er schaffte es. In etwa p�nktlich. Sie prosteten sich zu, w�nschten sich und allen ringsum alles Gute zum neuen Jahr. Dass ihr Wunsch, er m�ge Arbeit finden, in Erf�llung gehen w�rde...
Nun begann das Feuerwerk der Münchener. Er selbst hatte nur Wunderkerzen, die ihr Magnesium gl�hend verspr�hten. überall, auch um sie herum, z�ndeten die Menschen bengalische Feuer, Raketen stiegen zischend in den Himmel. Binnen kurzem waren sie in neblige Schwaden geh�llt, es roch nach Schwefel. Aahs und Oohs begr��ten bunte Lichtgarben am Himmel.
Die Schwaden hatten sich bereits wieder etwas gelichtet, da setzte es Kanonenschl�ge, die ihren Namen verdienten. Die Feuerwerksmusik von H�ndel hob an. Ein Zauberer begann, Blumenstr�u�e aus Licht und Farbe in den Himmel zu werfen, seine Feuerblumen bl�hten über der Kulisse des Hofgartens und der angestrahlten Fassade der Theatinerkirche. Farbige Kaskaden erfällten den Himmel, und goldener Regen fiel.
Immer wieder, wenn er schon glauben mochte, jetzt sei das Schauspiel vorüber, erhob es sich von neuem, in anderen Farben und Formen. Gl�hende Buketts wuchsen in den Himmel, funkelnde Kugeln barsten ineinander. Ein Florist des Lichts legte glei�ende Gestecke im Himmel an. Ein aufs andere Mal er�ffnete ein Kanonenschlag den n�chsten Akt.
Und wie nach einer großartigen Auff�hrung gab es, als wirklich alles vorüber war, einen Moment der Stille, dann einen Applaus, der rauschend in die kalte Winternacht stieg und über dem Ort zu liegen, zu schweben schien.
Pl�tzlich herrschte allgemeine Aufbruchstimmung. Auch Kain zog es wieder nach Hause. Sie waren nun schon stundenlang in der K�lte. Das Ereignis hatten sie erleben d�rfen, genossen.



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