Kain Esserers neue Z�ge – die Fahrt nach Frankfurt



Es hatte lange gedauert, bis er einmal Grund erhielt, in einem jener ICE-Z�ge zu sitzen. Soeben überholte der seine einen anderen auf dem Parallelgleis. Dessen Stromabnehmer lie� gelbe Funken von der Oberleitung in die nebelige Luft dieses M�rzmorgens spr�hen. München – Mannheim – Frankfurt und zur�ck: große Spr�nge an einem Tag, der gerade erst anbrach.

Auf freier Strecke war die Fahrt kein Rollen mehr – der Zug begann zu gleiten, vor dem Fenster flog die Landschaft vorbei. Reif bedeckte die Wiesen, über ihnen lag der kalte, feuchte Atem des Nebels.

Kain hatte sich eine Zigarette angez�ndet. Lagerh�user, graffitibespr�hte Mauern, L�rmschutzw�nde, Starkstrommasten, Landstra�en, Schl�sschen, Schreberg�rten – Deutschland, von der Schiene aus betrachtet. Sie erreichten Augsburg, ohne zu halten.

Wieder weiter im Land waren Maulw�rfe auf den Feldern t�tig gewesen, Kr�hen besuchten ein Futtersilo, und Kühe standen auf der Weide, warteten vielleicht noch auf den Bauern, der sie melken kam.
Menschen auf Bahnh�fen, Menschen in Autos auf Stra�en, sonst nur ihre H�user. Spuren, die sie in der Landschaft hinterlie�en.

Kain reiste zu einem Arbeitstreffen, sollte seine eigene Arbeit und die Erfahrungen daraus anderen vortragen. Kain hatte den Beruf gewechselt, war Dozent geworden, unterrichtete nun Anwenderkenntnisse an Computern, Online-Publishing.
Viel hatte sich f�r ihn ge�ndert, seit er seine letzte l�ngere Bahnreise unternommen hatte. Damals war er noch Architekt gewesen, damals war er nur privat gereist, damals waren diese ICE-Z�ge brandneu gewesen. Der, in dem er nun fuhr, geh�rte noch zu dieser ersten Generation. Es gab Nachfolgemodelle.
Eines war gleich geblieben. Er war allein.

Fuhren sie durchs Donaumoos? Der Nebel war streckenweise zu einer dicken Suppe geworden, aus der die vor kurzem aufgegangene Sonne nur vereinzelt kahle Baumkronen und Kr�henschw�rme heraus zu waschen vermochte.
Da war ein Fluss gewesen, eine Staustufe, Weiher, B�che. Hier inzwischen hatte sich der Nebel gelichtet, eine fahle M�rzsonne beschien den Morgen.
In der Ferne hatte Kain f�r eine Zeit den Turm eines M�nsters über einer Stadt gesehen, schon fuhren sie durch deren Randbezirke. Neu-Ulm, Ulm, und weiter, kein Halten.

Au�er Kain reisten an diesem Morgen nur einige wenige andere. Der Wagen war nur sp�rlich besetzt.
Drau�en vor dem Fenster wurde das Panorama nun bewegter: Die ebene Flusslandschaft war H�henz�gen und T�lern gewichen. Der Kontext blieb der gleiche: D�rfer, Felder, W�lder. Kain überlegte, ob er zur Abwechslung in den Speisewagen gehen solle – halt, der hie� nun Bord-Restaurant. Sie waren auf ihrer Fahrt in einem engen, felsigen Flusstal angelangt, mit waldbewachsenen, steilen H�ngen. Kain entschied sich f�r ja, als sie Geisslingen durchfuhren.
Er hatte sich geirrt. Die Waggons vor dem seinen – er hatte einen Fensterplatz im letzten Wagen des Zuges – die Waggons vor dem seinen waren fast zur G�nze besetzt. Gesch�ftsreisende unterhielten sich miteinander, Laptop-Arbeiter nutzten die Fahrtzeit. Im Restaurantwagen setzte er sich f�r einen Kaffee und wurde umsp�lt vom rollenden Rauschen der R�der und den Gesch�ftsbesprechungen nebenan. Er durfte hier nicht rauchen. In Himmelsrichtungen gedacht musste er sich westlich – nordwestlich bewegen. Zu sp�ren war nur ein stetes Voran. Er trank z�gig seinen Kaffee und erhob sich wieder, neben ihm die himmelhoch aufragenden, wei� gestrichenen Abgas-Schornsteine eines Kraftwerkes. Sie schienen blitzsauber. Was wei� war, musste sauber sein.
Bei einer Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern nahm er schwankend seinen Weg zur�ck.
Als er wieder seinen Platz erreichte, lagen terrassierte Weinh�nge neben ihm. Und schon fuhren sie über ein Tal auf einem Viadukt, durch dicht besiedelte Gegend, einen großst�dtischen Ballungsraum. Dann eine Reihe Tunnels, wieder D�rfer, Felder, W�lder. Eine Stunde noch bis Frankfurt.
Der Zug hatte inzwischen eine Reisegeschwindigkeit von 250 km/h erreicht. So schnell war Kain noch nie in einem Landfahrzeug unterwegs gewesen. Er musste an die �ngste der Menschen zu Beginn des Eisenbahnzeitalters denken, welche bef�rchteten, bei der enormen Geschwindigkeit von 30 Kilometern in der Stunde dem Wahnsinn zu verfallen und an der Schwindsucht zu sterben. Waren 250 Stundenkilometer in einem vollklimatisierten Wagen etwas anderes als 30 in einem offenen, rauchdurchwehten Coupe? Apropos: Sein Wagen war f�r Raucher.

Erst Kiefern, dann Laubwald.
Kain Essener hatte keine Orientierung, wo sie sich befanden, erfuhr erst von der Anzeigetafel des Wagens, dass es nur noch Minuten bis Mannheim seien. Der Zug war p�nktlich. Schon zu sehen der Mannheimer Fernsehturm, die �u�eren Stadtbezirke, der Hauptbahnhof. Ein Aufenthalt f�r Umsteiger, nur kurz. Und, schon wieder in Fahrt, der Hafen, der Rhein, Stadtrand, W�lder. Das Terrain wieder weit und eben. Biblis. Kain suchte nach Block A und B.
Auf dem Informationsdisplay des Wagens wurde angezeigt, dass der Zug von Frankfurt an unter neuem Namen weiterfuhr. Aus dem Rheinsprinter wurde der ICE Rainer Maria Rilke. Kain suchte nach Ver�nderungen, Marken, an denen er das Anderssein des Drau�en festmachen konnte. Als deutliches Anderssein fiel ihm nur das Aussehen der Kirchen auf. Statt Barock und Zwiebelt�rmen hier Gotik mit wei�en W�nden und Natursteinquadern in den Ecken.
Der Anblick eines startenden Verkehrsflugzeugs holte ihn aus seinen überlegungen. Frankfurt, der Flughafen. Kain begann, sein weniges Gep�ck zusammen zu suchen. Der Zug hielt nochmals kurz in einem Vorort, dann bewegte er sich endg�ltig auf die Skyline der Frankfurter Innenstadt zu, deren T�rme in einen gelbgrauen Hochnebel ragten, in dem nur ein blasser Fleck die Position der Sonne andeutete.

Als Kain in der weit gew�lbten Halle des Hauptbahnhofes ausstieg, war er sich nicht ganz im Klaren, ob er hierher gefahren worden war, oder ob sich die Erde unter ihm zu diesem Ort bewegt hatte.




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