Kain Esseners Kampf um einen Parkplatz


Die großen Sommerferien hatten begonnen. Noch war es Vormittag an jenem nicht zu heißen Sommertag.
Kain Essener hatte seine Schwester und seine Nichte zum münchner Flughafen gebracht und dort am Terminal verabschiedet. Sie waren nach Tunesien abgeflogen, in den Urlaub, in die Sonne. Er mußte bleiben. Er wollte sich auch etwas gönnen. So besuchte er den Besucherhügel gegenüber dem Vorfeld, besah sich die dort aufgestellten Flugzeug-Oldtimer. Weil er viel Zeit hatte an diesem Tag, weil er bereits unterwegs war, beschloss er, sich einen Film in der Videothek zu leihen und Kinokarten vorzubestellen: Bald würde ein Film anlaufen, auf den er schon lange wartete. Er wollte Karten für die Preview, er wollte zu den Ersten gehören, die den Film in München sahen.
So war er den Weg zurück in die Stadt gefahren, zum Rosenkavalierplatz, in dessen Nähe er wohnte. Hier gab es eine Videothek und ein Kino. Von der Elektrastraße kommend, bog er ab und begann, nach einem Parkplatz zu suchen - vergeblich. Er fuhr die Straße entlang, hielt nach rechts und nach links Ausschau - nichts, keine Parklücke, obwohl Ferienzeit war, alles belegt. Er wendete in der Arabellastraße und fuhr zurück. Nicht ins Parkhaus - mehr Geld fürs Parken auszugeben als für den Film, den er ausleihen wollte - nein! So hielt er am rechten Fahrbahnrand, vor den senkrecht zur Fahrbahn angeordneten Stellplätzen bei der Bibliothek und wartete.
Er wartete, rauchte, dachte an den Film -"Sieben Jahre in Tibet"- , er würde erst zur Videothek und dann zum Kino gehen, dem "Cadillac", die Karten für "Starwars" bestellen.
Ein LT-Transporter, ein graublauer Kastenwagen, hielt vor seinem PKW, ebenfalls rechts am Fahrbahnrand. Kain wurde unruhig, der andere blockierte ihn. Als links vor ihm eine Parklücke frei wurde, konnte er nicht losfahren, der Transporter verstellte ihm die Zufahrt. Kain hupte den Kastenwagen an, doch dessen Fahrer reagierte nicht. Inzwischen kam auf der Gegenfahrbahn ein Fahrzeug, das in die Lücke einparkte. Kain Essener mußte weiter warten. Eine Viertelstunde stand er nun schon hier. Plötzlich fuhr der Transporter an - und hinein in einen Parkplatz, den Kain nicht hatte ausmachen können. Der Fahrer des Kastenwagens hatte ihn zweimal um die Möglichkeit gebracht, einzuparken.
In Kain Essener war nun Ärger. Er wunderte sich über dieses Gefühl. So deutlich, so ausgeprägt und rein hatte er "Ärger" noch nie gespürt. Was ihn als zweites wunderte, war: Der Ärger kam nicht einfach aus seinem Bauch, er kam von links, dort, er seine Milz vermutete.
So saß Kain Essener nun in seinem Auto, seit über zwanzig Minuten wartend, langsam in seinen aufsteigenden Ärger versinkend. Plötzlich nahm er aus seinen Augenwinkeln eine Bewegung war, etwas Weißes, das an ihm links vorbeizog. Ein weißer Mercedes Kombi hielt direkt vor seiner Kühlerhaube. Und in diesem Moment sah Kain auch eine Frau, die, den Autoschlüssel in der Hand, auf einen der geparkten Wagen rechts vor ihnen zuging. Sie stieg ein und fuhr davon. Ohne Hast rangierte der weiße Kombi quer über die Straße, um rückwärts in die frei gewordene Lücke einzuparken.
In Kain Essener war Ärger. Aber sein Kopf war auf einmal klar. Der andere wollte sich vordrängen. Aber er hatte ihm soeben die Zufahrt in die Parklücke frei gemacht. Der Motor seines Autos lief. Er fuhr an, holte nach links aus und zog nach rechts - eine Angelegenheit von wenigen Sekunden. Er hatte den Parkplatz.

Kain stellte seine Parkscheibe auf die Ankunftszeit und stieg aus. Der Kombi hatte hinter seinem Auto auf der Straße angehalten. Kain ging zu dem heruntergelassenen Fenster auf der Beifahrerseite. Ohne sich hinabzubeugen, sagte er in den Wagen hinein, dass er das Verhalten des Fahrers unverschämt fand. Aus dem Inneren tönte ihm ein voller Bass entgegen, der ihm mitteilte, dass der Andere sich soeben die Autonummer von Kains Wagen notiert habe. Er, Kain werde noch von ihm hören. Damit war das Gespräch beendet.
Leicht benommen verlies Kain den Schauplatz des Geschehens. Er war sich im klaren, dass er sich da soeben ein Husarenstück geleistet hatte. Andererseits hatte er sich endlich einmal der Unverschämtheit anderer erwehrt. Ein Augenzeuge, der den Vorgang vom Bürgersteig aus beobachtet hatte, lächelte nur vielsagend und schüttelte seinen Kopf.

Der Film, den sich Kain Essener auslieh, handelte von einem jungen, egozentrischen Mann, Anhänger einer totalitären Weltanschauung, der sich zum engagierten, mitfühlenden Menschen wandelte.




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