Kain Essener: Nach dem Kino



Zwei spielten Go-Bang.
Kain Essener war soeben, von den Museums-Lichtspielen kommend, bei "Zoozie's" gelandet. Es war 10 nach 10. "Out Of Rosenheim" von Percy Adlon hatte er sich angesehen. Und es war der menschlichste Spielfilm, den er seit langem gesehen hatte.
"Zoozie�s" war mal wieder completely - proppenvoll. Er auch. Der Film wirkte in ihm nach. Im Kino hatte er auf die Geschichte geachtet, nicht so sehr auf die Bilder. Und nun kamen die Bilder wieder und durchzogen ihn. Purpurne Landschaften, oxidgelbe Landschaften, blaue Landschaften, grüne Highways und Cinema-Color-farbene Erzählungen. In Plüsch gebettet hatte er Gesichter anderer gesehen. Lebendige Gesichter, energische Gesichter, Gesichter von Menschen, die sich wie Menschen benahmen.
Nebenan am Tisch auch Menschen, es ging um's Zerstören von Strategien und um den Aufbau von Ansätzen sowie um das Weitermachen mit dem Aufbau. Warum nur war so wichtig, daß Blumen in Vasen auf dem Tisch standen, Nelken und Farngräser? Um die Blumen herum viele leergetrunkene Gläser, Zeugen für die Dauer des Gesprächs.
Er wartete auf die Kellnerin, um die eben gedrehte Zigarette mit Streichhölzern anzuzünden, die er sich von ihr erbitten wollte. Die Kellnerin kam und kassierte zunächst bei der Runde am Nachbartisch, bevor sie sich ihm zuwandte und seine Bestellung entgegennahm. Bald hatte er sein Weißbier und auch seiner Bitte nach Streichhölzern wurde entsprochen.
Von Schallplatte war ein Lied zu hören gewesen, eine Sängerin hatte gesungen, mit Lebensfreude, voll. Die Kraft, die aus dem Lied geklungen hatte, erinnerte ihn an eine junge Frau, die er kannte-sollte er sagen: sehenswert? Bemerkenswert auf jeden Fall. So aus sich herausgehen zu können. Er wünschte sich, auch so sein zu können. Aber so, wie er war, war das nicht sein Fall. Er saß sehr viel. Ihm war Ruhe sehr wichtig.
Wieso kam er dann ins "Zoozie's"? Es brodelte, war sehr lebendig. Vom Thekenraum her schwoll die Musik, sich lagernd über den Sprachteppich, der sich von den Tischen erhob, gespeist vom Gesprächsstoff des durchwegs jungen Publikums.
Was vermeinte er, daß ihm fehle, um als lebensfroher Mensch im 20.Jahrhundert zu leben?
Er drehte sich noch eine Zigarette und zündete sich diese an. Er sah auf. Inmitten des Raumes, zwischen all den vollbesetzten Tischen, zwischen den Bugholzstühlen stand eine junge Frau, suchend, mit Sorgenfalte auf der Stirne. Sie blickte von einem Tisch zum anderen, ihre Augen musterten nacheinander jeden und jede der Anwesenden. Auch er kam an die Reihe. Unwillkürlich hob er sein Haupt nochmals, er sah sie an. Unwillig schüttelte sie ihren Kopf, verneinend, und doch kam ihr ein Lächeln, erhellte ihr Gesicht.
Was er nicht erwartet hatte: zögernd setzte sie sich in Richtung seines Tisches in Bewegung, wobei sie ihr Suchen und Schauen noch fortsetzte. An dem Tisch, an dem er saß, waren sonst noch alle Stühle frei. Als sie herangekommen war, grüßte sie. "Hallo. Ich suche jemand. Aber ich könnte eine Verschnaufpause brauchen. Darf ich mich setzen?" Er bat sie, sich einen Platz auszusuchen und sie setzte sich, zwei Stühle links von ihm, mit Blick in den Raum.
Er betrachtete sie. Viel jünger als er war sie, sie wirkte so jung und frisch. Die Sorgenfalte auf ihrer Stirn hatte sich etwas gelichtet. Sie trug, wie er schon vorher gesehen hatte, eine schwarze Keilhose. Die samtrote Jacke, die sie an hatte, ähnlich einer Kosakenjacke, war mit Stickereien verziert, schwarz und gold. Ihre haselnussbraunen Haare, Pagenkopf mit Mittelscheitel, wippten auf und ab. Er fühlte sich durch ihren Anblick erheitert. Gymnasium, Oberstufe dachte er bei sich, während sie weiter suchend umherblickte. Auch gefielen ihm ihre Straffheit und das natürliche Selbstbewußtsein, das sie ausstrahlte.
Wieder wandte sie sich an ihn. "Wie spät ist es bitte?" Er sah auf seine Armbanduhr. "Bald schon halb elf Uhr." "Dann haben die mich versetzt." Sollte er jetzt fragen, wer seine junge Tischnachbarin versetzt habe? Inzwischen hatte sie aus ihrer Handtasche eine Packung Tabak geholt und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Eigentlich ist halb elf an einem Freitagabend nicht die Zeit, um das mit dem Versetztsein so mit Bestimmtheit zu sagen, fiel ihm ein, vor allem, wenn man erst 18 Jahre alt ist.
Sie war 21 Jahre alt und studierte Germanistik im dritten Semester, wie sich herausstellte. Er hatte wegen der treulosen Freunde nachgefragt und sie waren ins Gespräch gekommen. Sie hatte auch bemerkt, daß sie ihm gefiel, ihr Lächeln war zwar noch distanziert, aber nicht mehr so anonym, sondern wärmer, persönlicher.
Für ihn war neu, daß es eine Frau ihm gegenüber mochte, wenn er sie schön fand. Neu war für ihn auch, daß sein Kopf dabei klar blieb. Und neu war für ihn auch, daß sie seinen Gefallen an ihr annahm, daß ihr sein Interesse für das, was sie tat, jedoch wichtiger war und ihn selber für sie interessant machte.
Kain hatte schon einmal eine Freundin gehabt, die Germanistik studiert hatte, allerdings für das Lehramt. Seine neue Bekannte hatte sich noch nicht entschieden, ob sie später einmal zu einem Verlag wolle oder ins Bibliothekswesen. Lehrerin werden, nein danke.
Wie auch seine frühere Freundin, und auch wie er selbst, schätzte sein weibliches Gegenüber die Parzivalsage, doch nicht den Parzival Wagners. Andererseits kannte und interessierte sie die neue deutsche wie auch englische Literatur. Kain, obwohl er selbst zu schreiben suchte, konnte da nicht mithalten. Seine Literaturkenntnisse endeten irgendwann in den 70er Jahren. Sten Nadolny nannte sie ihm als unbedingt zu lesen. Er verzichtete vorerst darauf, ihr das mit dem selber schreiben zu erzählen.
Statt dessen fragte er sie: "Schreiben Sie denn auch selber?" Sie lachte auf: "Ich? Nur das, was ich im Studium zu schreiben habe. Mich interessiert die Sprache, Deutsch, das, was sie sozusagen will."
"Glauben Sie, daß eine Sprache einen eigenen Willen hat?" "Gewiss, doch, ja. Die Grammatik ist der Wille der Sprache. Versuchen Sie das zu sagen, was Sie sagen möchten. Die Sprache wird Sie führen, sie wird Sie aber auch zur Wahrheit anhalten und sie überlisten, wenn Sie etwas Falsches sagen wollen. Die Sprache wird Sie auch auf das hinweisen, zu dem hinführen, was Sie eigentlich möchten und wollen. Und wenn sie möchte, wird sie Ihnen auch helfen, das auszusagen, mitzuteilen, was Sie wollen. Die Sprache wird Ihnen helfen." Kain Essener fand:"Das haben Sie schön gesagt!" Sein weibliches Gegenüber lächelte und lachte. "Ja, das finde ich auch. Ich gebe zu, es ist besser bildlich zu verstehen. Aber die Sprache gehört zum Leben, ist Teil davon. Ausdruck des Lebens und Mittel zum Leben. Sprache, Sprechen gehört zum Leben der Menschen." Kain führte den Gedanken weiter: "Die Menschen haben in ihrem Leben Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten gefunden. Diese sind dann auch in ihre Sprache eingeflossen. Sprache ist ein Spiegel des Lebens der Menschen, die sie sprechen" "Und wie sie sprechen und damit umgehen." Sie sah ihn etwas von der Seite an: "Sprache, wenn man sie liebt, pflegt man sie auch."
Kain geriet ins Nachdenken und so stockte das Gespräch für eine Zeit. "Doch, ich liebe meine Sprache. Mir gefällt aber Ihr Gedanke, dass Sprache einem zu sich helfen kann." Schnell warf seine Tischnachbarin ein: "Nicht nur zu sich. Sprache, sprechen hilft einem an sich." "Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Sie richtig verstehe, ob ich ganz begreife, was sie meinen. Ich liebe meine Sprache, ich gehe gerne um mit ihr, ich gebe gerne der Schönheit einer Idee Ausdruck, ich möchte der Klarheit von Gedanken mit meiner Sprache entsprechen. So möchte ich auch schreiben." "Ich kann so nicht abschätzen, ob Sie Talent haben zum Schreiben. Um das zu beurteilen, müßte ich etwas von Ihnen lesen." Sie lächelte wieder. "Aber trauen Sie es Sich doch einfach zu. Schreiben Sie. Soweit ich Sie in der kurzen Zeit unseres Gesprächs kennenlernen konnte, fehlt Ihnen vielleicht nur der richtige Mumm. Ich will damit nicht sagen, daß Sie so nicht schreiben können. Aber zum Schreiben gehören meiner Meinung nach nicht nur Wortgewandhett, Liebe zu den Menschen und zum Leben - und auch Esprit, sondern auch eine Portion Mut - und vielleicht eine Prise Chutzpe. Trauen Sie Sich was." "Als Deutscher zu leben, in solche Lokale zu gehen und dann über die Schönheit des Lebens - in Deutschland - zu schreiben, das ist immer noch nicht so einfach." Sie lachte auf und lächelte ihn an: "Auch für deutsche Frauen ist das Leben hier nicht immer einfach. Trauen Sie es sich zu. Machen Sie weiter. Aber für heute muß ich gehen. Leben Sie wohl. Tschüß." Sie stand plötzlich auf, wandte sich zum Gehen, als sie sich umdrehte und sagte: "Wir sehen uns bestimmt wieder." Dann war sie in der Menge des immer noch jugendlichen Publikums untergetaucht.
Kain Essener saß wieder vor seinem halbvollen Weißbierglas. Er lächelte. War sie eine Fee -
oder die deutsche Sprache? Er trank aus, rauchte zu Ende, zahlte und ging.




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