Kain Essener hatte einmal auf eine Werbezuschrift geantwortet. Weil ihn das angebotene Auto interessierte. Weil er es gut fand. Design, Feeling, Technik und Sicherheitseinrichtungen auf dem neuesten Stand. Ein Lifestyle-Auto, mit Ideen ausgestattet.

An einem Donnerstag Mittag kam der Anruf: "Herr Essener, Sie interessieren sich doch f�r den neuen Alpha Beta. D�rfen wir Sie zu einer Probefahrt einladen?"
Kain versuchte abzuwiegeln. Weder hatte er momentan vor noch das Geld, sich ein neues Automobil zuzulegen.
Die freundliche junge Dame am anderen Ende der Leitung blieb freundlich hartn�ckig. Sie warb in schillernden Worten f�r die unverbindlichen Vorz�gen einer Probefahrt. Alles sei v�llig ohne jede Verpflichtung, zwei Stunden lang ein neues Auto testen, das Benzin w�rde gestellt. Sie lie� anklingen, die Aktion h�tte auch Aspekte einer Kundenbefragung, man wolle wissen, was den potentiellen Interessenten an dem Wagen gefiele - oder vielleicht auch weniger.
Kain merkte an, dass er groß gewachsen sei. Er habe gewisse Bedenken, ob er im wahrsten Sinne über Haupt bequem in dem Wagen Platz f�nde.
Dennoch begann das Angebot, ihn zu reizen. Einfach einmal schauen und ausprobieren, was hatte er schon mehr zu investieren als zwei bis drei Stunden Zeit?
Also signalisierte er seine Bereitschaft und sie vereinbarten einen Termin am darauf folgenden Samstag.

Am Samstag, nachmittags um Zwei bei tr�bem, nieseligem Wetter erschien Kain auf dem Gel�nde der zust�ndigen �rtlichen Handelsniederlassung des Automobilherstellers. Die freundliche junge Frau, die an diesem Samstag noch Dienst tat - l�ngstens bis um Vier - empfing ihn und h�rte sich seine Geschichte an. Ja, der Termin sei vereinbart, der Wagen stehe bereit. Wegen des Gesch�ftsschlusses um Vier stehe aber nur etwa eine Stunde Zeit zur Verf�gung. Sie lie� ihn die übernahmepapiere f�r den Wagen unterschreiben - ohne Zwang zeichnete Kain Essener f�r eine Vollkaskoversicherung mit 500 Euro Selbstbeteiligung. Dann begleitete die junge Frau Kain zum Wagen. Er hatte, ohne es zu wissen, seinen kleinen Italiener direkt neben dem Vorf�hrwagen geparkt. �u�erlich waren beide Autos etwa gleich groß. Zwischen beiden lagen 13 Jahre und einiges an technischer Entwicklungsarbeit.

Hier war er also: Der neue Alpha Beta in Schwarz und Silber, fünft�rig, 77kW. Nein, Dreit�rer wurden nicht hergestellt. Die Mitarbeiterin des Hauses �ffnete den Wagen mit dem elektronischen Schl�ssel. Kain schwang die Fahrert�r auf und setzte sich hinein. Bequeme Sitze, er hatte hier mehr Kopffreiheit. Partout schlug er sich beim Schlie�en der T�re den Ellenbogen an der T�rs�ule der massiven Fahrgastzelle.
Die junge Frau wies ihn kurz ein und übergab ihm Z�ndschl�ssel und Wagenpapiere. Er konnte losfahren.

Alle Instrumente und Bedienhebel lagen in guter Reichweite um das Lenkrad. Kain steckte den Schl�ssel ins Z�ndschloss. Eine halbe Umdrehung, der Motor startete prompt, mit einer gewissen rauhen Grummeligkeit. Den ersten Gang einlegen - Kain lernte gerade kennen, was andere eine knackige Schaltung nannten. Kupplung, Gas, der Wagen rollte an. Kain fuhr vom Firmengel�nde und bog auf den Frankfurter Ring ein. Schalten, Gas, der Motor packte mit Biss an.
Kains vorgesehene Route f�hrte ihn erst einmal in die Innenstadt. Die Schaltung war eine reine Freude. Stadtverkehr, Ampeln, fahren, bremsen, anfahren. Die Bremsen, elektronisch verst�rkt und reguliert, griffen sanft und bestimmt. Die Lenkung direkt und leichtg�ngig. Kain sa� in einer n�chtern-modernen, ein bisschen avantgardistisch gestylten, komfortablen Umgebung. Wertige Stoffe. Gut ablesbare, technisch-n�chterne Instrumente. F�r die tiefe Sitzfl�che war er dankbar - sie unterst�tzte seine langen Oberschenkel. Die Kopfst�tzen hatten selbst f�r ihn die richtige H�he. Wie fuhr sich ein Auto, dass er sich nicht w�rde leisten k�nnen? N�chtern betrachtet fuhr es sich sehr gut.

In den engen Stra�en um den alten Schwabinger Friedhof machte er ein paar Rangier- und Einpark�bungen mit dem Wagen. Das Auto lie� auch hierbei nichts zu w�nschen �brig. Einzig die übersichtlichkeit war wegen der massiven Sicherheits-Fahrgastzelle nach hinten etwas eingeschr�nkt.

Sicherheits-Fahrgastzelle. Hochsicherheits-Fahrgastzelle. Fahrgast-Hochsicherheitszelle. Das klang nach Stammheim. Dort, wo in den 70ern die Terroristen einsa�en. Zugegeben, manche Autofahrer...
Andererseits: Warum hatte noch niemand ein Auto erfunden, dass sich bei einem Aufprall mit 50 km/h in ein Marshmellow verwandelte? Nach dem Motto: Knack und Back? Airbags waren ja nur ein Anfang... - Aber er wollte nicht mit Entsetzen Scherz treiben. Seine bedr�ckendste Angst als Autofahrer war die, dass einfach ein Kind unachtsam vor ihm auf die Stra�e lief und er nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Er hatte solche Unf�lle gesehen. Sehr viel besser das Motto: Augen auf im Stra�enverkehr. Und Fu� vom Gas...

Obwohl Samstag war, herrschte in der Innenstadt reger, sogar dichter Verkehr. Kain wollte noch ein paar Autobahnkilometer fahren. Die n�chste war die Lindauer Autobahn. Also raus aus der Innenstadt, über den Mittleren Ring. Nur - es ging nicht so schell, wie er gehofft hatte. Immer wieder sah er auf die Uhr. Immer wieder stand er in langen Schlangen vor den Ampeln. Endlich das Autobahnschild, Blinker raus. Eingeschr�nkte Geschwindigkeit wegen Baustelle. Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn standen sie schon in Richtung Mittlerer Ring, über den auch Kain Essener wieder zur�ck musste. Die Zeit dr�ngte. Probefahrten machten definitiv mehr Spa�, wenn man mehr Zeit hatte und gen�gend Geld, sich das Auto auch gegebenenfalls zu kaufen.

Kain gab die Autobahnfahrt auf, kehrte bei der n�chsten Ausfahrt um und stand nun in diesem neuen Auto definitiv im Stau. War er die Sache falsch angegangen? Im Stau zu stehen frustrierte ihn auch in einem neuen Auto. Termin einhalten - endlich, auf dem mittleren Ring, kam er z�giger voran. Termin halten - drau�en am Frankfurter Ring bog er in die falsche Richtung ab und stand nach einer Kehre wieder im Stau. Er schaffte es, nach einer Stunde und zehn Minuten zur�ck zu sein.

Die junge Frau nahm den Wagen wieder in Empfang. Sie merkte, dass Kain in der Stunde nicht zum kaufwilligen Kunden geworden war, und unterlie� taktvoll h�flich weitere Fragen. Er erbat sich noch einen Prospekt und verabschiedete sich dankend.
Dann sa� er wieder in seinem kleinen Italiener. Etwas enger war alles, die Kopffreiheit fehlte - aber der Blick nach drau�en war freier. Die Schaltung war wie gewohnt hakelig, doch der kleine Motor brachte das leichtere Fahrzeug in Schwung. Der Antrieb brummte, w�hrend die elektronische Benzineinspritzung - vor 13 Jahren bei einem Fahrzeug dieser Klasse ein Novum - ein bisschen heulte und pfiff. Alles alt, aber bezahlt. Irgendwie konnte man sich an jedes Auto gew�hnen. Dieses war ihm vertraut.

Einen Anruf wegen einer Kundenbefragung erhielt er nicht.

Klaus Gölker   �2004   | Home |