Einmal zuvor und zurück



Im Zug sitze ich. Das Fenster ist offen. Es ist kalt draußen, zu kalt für die Jahreszeit. Ich sitze im Zug, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Seitdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, schreibe ich. Was hat mein Zugfahren mit meinem Schreiben zu tun? Hat mein Schreiben mit meinem Zugfahren zu tun?
    Ihren Brief trage ich in der Brieftasche, die in der Innenfuttertasche meiner grünen Jacke steckt. Dieser Brief, wie eine Frage aus der Vergangenheit, wie eine Frage weggeschobener, gewollt vergessener Erlebnisse: Aber damals warst Du doch so, ich habe Dich doch so gesehen, erlebt! Dieser Brief ist der Anlaß meiner Reise, auf ihn hin habe ich mich mit diesem Zug in Bewegung gesetzt. Für ein paar Schritte gehe ich auf den Gang.
    Als ich in den Wagen der Deutschen Reichsbahn einsteige, riecht dieser anders als die Abteilwägen der DB. Ein anderes Reinigungsmittel. Der Zug fährt nach Berlin-Zoo. Ich steige in Regensburg aus. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit einem Berlin-Zug nach Regensburg fahre. Aber soweit ich mich erinnern kann, ist es das erste Mal, dass ich in einem Abteilwagen der Deutschen Reichsbahn fahre. Viel hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Zu den 10 alten Ländern sind die 5 neuen Länder - wieder - hinzugekommen.
    Früher, vor der deutschen Wiedervereinigung, bin ich einmal im damaligen "Drüben" gewesen. Heute, eineinhalb Jahre danach, arbeite ich in einem Architekturbüro, welches auch Planungsaufträge für die fünf neuen Länder hat, Aufträge fürSupermärkte - schon wieder eine "Kolonisierung des Ostens" - und diesmal bin ich dabei? Auch ich gehöre zu den Kunden der hiesigen Filialen der entsprechenden Lebensmittel-Handelsketten. Auch ich will meine Butter auf dem Brot - bekommt sie mir wirklich?
    Die Sitzposition, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung - ich konnte sie mir nicht aussuchen. Viele Waggons des Zuges bin ich abgelaufen, der Zug ist nahezu voll besetzt. Hier im Abteil waren noch zwei Plätze frei, ich wählte den Sitzplatz zum Gang hin, mit dem Blick durch die Glasscheibe der Abteiltrennwand zum Fenster in der Wagenaussenwand.
    Noch ist der Platz rechts neben mir frei. Als Mitreisende habe ich zum Gegenüber einen silberhaarigen Mann, mit einem Gesicht, welches Sorge kennt, weit in den Fünfzigern. Neben ihm ein junges Paar anfangs der Dreißiger, beide etwas stämmig untersetzt, sie wirken auf sich nicht grob, aber ländlich deftig, haben beide einfache, doch ausdrucksfähige Gesichter, zum Mitfühlen bereit. Meinen Nachbarn zur Rechten sehe ich nur als Silhouette, eingehüllt in seinen silbrig-blauen Mantel, von seinem Fensterplatz nach draußen blickend.
    Selbst bin ich modisch-sportiv gekleidet - wer sagt mir, manchmal zu Recht, das: etwas geckenhaft? - trage an meiner hochaufgeschossenen, etwas dürren Gestalt grüne Hosen und eine seidig gelb-grün schimmernde Fliegerjacke, die mir lieb ist, über dem sehr teuren Pullover einer Markenfirma, mit sehr zarten Farben einer erdig-pastelligen Palette, mit Mustern, die von Miro sein könnten.
    In Freising steigt noch ein junger Mann zu, etwa meines Alters, Anfang der Dreißig, mittelgroß, schlank, mit männlich kernigem Gesicht, gekleidet in eine braune Cordhose und ein passendes Tweedsacko Er zögert zuerst auf dem Gang, bevor er dann doch die Runde im Abteil vervollständigt.
    Gesprochen wird wenig, die Begrüßungsformeln, wenige Worte, als er Zugbegleiter mit seinem lmbisswagen auf dem Gang vorbeikommt und Bestellungen entgegennimmt. Von den Abteilinsassen unterhält sich nur das junge Paar, mit gedämpften Stimmen, intim.
    Der Schaffner kommt vorbei, Fahrkartenkontrolle, und ich muß nachlösen, München - Regensburg und zurück. Danach sitze ich wieder betrachtend da, blicke über den Gang aus dem Fenster und notiere meine Reiseeindrücke und Gedanken. Das Bild der Landschaft draußen wandelt sich langsam stetig mit der Geschwindigkeit der Fahrt.
    Braungefurchte, ebene Landschaften, hügelige Gegenden, Ortschaften, Felder, rapsgelb, maigrün. Bewaldete Hänge neben dem Bahndamm, Nebenläufe und Auen von Flüssen, einsam gelegene Weiler und Industrieanlagen, bevor der Zug wieder den Bahnhof einer größeren Stadt erreicht. Wenige Minuten, und wieder erneut die Aussicht auf Landschaften, die im Licht einer Frühlingssonne liegen, welche ihre volle Kraft erst noch zu entfalten hat. Sonnenlicht und hohe, zum Teil regnerisch graue Wolken erwirken ein Schattenspiel flusiger, zerzupfter Formen auf der Erdfläche, vorüberhuschend, schneller gemacht durch das Fahren des Zuges. Ackerfurchen erscheinen mir wie Schallplattenrillen - welche Musik bergen Pflugspuren?
    Wieder Gangpause, erst ich, dann die beiden mitreisenden jungen Männer. Der junge Mann, der mit seiner Freundin oder Frau reist, verstellt mir mit seiner Rückenpartie die Aussicht auf das Gangfenster, doch kann ich nun auf der durch den groben Stoff seiner Parka abgedunkeiten Scheibe wie in einem Spiegel das Bild der Landschaft sehen, die vor dem Abteilfenster vorbeizieht. Da der Mann auf dem Gang sich bewegt, mit dem Zug hin-und herschwankt, erlebe ich ein abwechslungsreiches Kaleidoskop von Durchblicken und Spiegelbildern.
    Beide Mitreisende kehren ins Abteil zurück und das Zwiegespräch des jungen Paares setzt wieder ein. Draußen sind Werkshallen und Industriebauten zu sehen. Der fahrende Zug mit uns Reisenden nähert sich Regensburg und damit mir von früher bekannten Anblicken. Bei der Einfahrt nach Regensburg kann ich nur wenig Neues erkennen.
    Das junge Paar und der andere junge Mann steigen gemeinsam mit mir am regensburger Hauptbahnhof aus. Vom Bahnsteig durch die Unterführung, die Treppen hinauf zum Bahnhofsvorplatz - von früher bekannte Wege. Die Maximilianstraße stadteinwärts - zum erste Mal fällt mir die Namensgleichheit mit der Maximilianstraße in München auf. Vorbei an Parkanlagen und Blumenbeeten - das Standbild eines adeligen Kirchenfürsten blickt mit gefaßtem Ernst, männliche Würde, Tatkraft ausstrahlend. Passanten und Menschen, die an Haltestellen warten, Ladengeschäfte - und da auch eine Blumenhandlung. Ein Sitzcafe suchend, wende ich mich der Fußgängerzone zu, kehre jedoch um Richtung Blumenladen - zu weit entfernt in der Innenstadt sind die mir bekannten Cafehäuser. Samstag Mittag, viele, die noch etwas zu besorgen haben, sind mit mir unterwegs.
    Ob ich ihr einen Buchs mitbringe, einen Margeritenstock - oder eine ranke, zarte und doch widerstandsfähige, mich an einen jungen Baum erinnernde Pflanze? Die Verkäuferin weiß zu berichten, diese stamme aus den subtropischen Regionen Australiens. Auch der Inhalt meiner Geldtasche läßt mich das exotische Bäumchen wählen.
    Meine Frage nach dem Weg zu der Straße, in der 'sie' wohnt, wird erläuternd beantwortet. So ziehe ich los, von der Hauptstraße in einen kleinen Fußweg hinein, diesen entlang an Auslagen vorbei, entlang alter Bürgerhäuser und dem eingezäunten Grün der Gärten dahinter. An den Mauern der Stadtbefestigung aus römischer Zeit mache ich Halt und raste, versuche, Kontakt zu früher aufzunehmen. Der Wind, ungewohnt kalt für den Monat Mai, zaust am schwarzen Blumenpapier, ich muß die Pflanze auffangen. Das Bäumchen im Arm, sitze ich in der Sonne. Wenige Erinnerungen kommen, wenige Gedanken an Altes - vielleicht gut so.
    Meinen Fußweg fortsetzend, gehe ich durch Viertel, durch die ich früher kaum zu Fuß ging. Straßenblock für Straßenblock schlendere ich entlang, von Stadtmitte stadtauswärts. Hin und wieder erkenne ich Wegmerkmale von früher wieder - und dann liegt auf einmal das Wohnhaus mit der gesuchten Nummer auf der Straßenseite gegenüber.
    Ein Fußgängerüberweg, aufs Ampelgrün warten, zu dem Haus hin an die Haustüre gehen, dort die Namensschilder, ihr neuer Nachnahme. Sie hatte am Telefon gefragt, ob ich mich "in die Höhle der Löwin" wagen wolle - nun, etwas kribbelig im Bauch ist mir.
    Nun also bin ich hier, klingle und öffne die Türe auf das Surren des Türöffners hin. Im Treppensteigen kommt freudige Nervosität bei mir auf. Wie sie heute wohl aussehen mag?
    Sie steht hinter der geöffneten Türe und begrüßt mich per Händedruck in ihrer Wohnung. "Hallo" und "Wie geht's?". In ihrer Stimme schwingt immer noch der mir bekannte spöttische Ton mit. Sie nimmt mir Jacke und Schal ab und versorgt diese in ihrer Garderobe. "Schöne Jacke. Seide?" "Nein, Baumwolle und Kunstseide."
    Schön ist sie - und stattlich. Ihr Haar wirkt lockiger, luftiger, voller als ich es kannte, auch wenn es jetzt völlig silbergrau ist. Ich fange an zu plaudern, doch sie fängt meinen Redefluß ab und führt mich in ihre Küche. Wer je von einer Frau in ihr selbst geschaffenes Paradies geführt wurde, kann nachvollziehen, miterleben, was ich erleben darf.
    Zunächst werde ich vorgestellt, dann stellt sie sich an den Herd, um das Mittagsmahl zu bereiten, gebratenen Reis - für mich, ihren Gast, sich, ihre Kinder, und für die Studentin, die bei ihr wohnt und ihr zur Hand geht. Schmeckte der Reis allen so gut wie mir?
    Beim Essen beginnt ein Gespräch, über uns und das, was gewesen war, offen und, wie ich finde, mit Liebe, Vertrautheit, die so früher zwischen uns nicht gekannt war. Früher undenkbar aussprechliches kann im Gespräch erläutert werden, früher nur gewünschte Nähe kann erfahren werden - die früher nicht gekannte Distanz macht uns dazu fähig.
    Das Gespräch führt über den Kaffee hinaus, am Abend dann fährt sie mich zum Bahnhof. Es wird wenig gesprochen auf dem Weg. Der eigentliche Abschied dann ist nur kurz, fast schon unpersönlich.
    Auf der Rückfahrt im Zug unterlasse ich das Schreiben und versuche, innerlich ruhig und ausgeglichen zu werden.
In München fährt mein Zug an zwei neuen ICE-Schnellzügen vorbei, welche die Reisezeit zwischen München und Regensburg auf S-Bahn-Fahrzeiten zu reduzieren vermögen - ich bin in einer neuen Zeit angekommen, allein.




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