Die Traumreisenden
Sie hatten lernen müssen, dass sie auf diesen Planeten, auf das Sonnensystem angewiesen waren. Sie hatten das ganze System durchforscht, die terrestrischen Planeten erreicht, wo möglich auf den Monden der Gasriesen und äußeren Planeten Stationen errichtet. Der Mars war fast eine zweite Erde geworden, mit Terraforming hatten sie eine atembare Atmosphäre dort geschaffen. Sie gewannen Energierohstoffe von den Gasplaneten, Mineralien und Wasser von deren Monden. Es war eine Glanzleistung ihrer Ingenieure, dass die Tanker von Jupiter und Saturn wesentlich mehr Treibstoff gewinnen und laden konnten, als sie selbst auf dem Flug zur Erde und zurück verbrauchten.
Die Menschen hatten Zeit gehabt, sich und ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten zu entwickeln. Sie hatten ihre Religionen mehrfach fast völlig aufgegeben, bis sie begriffen, wozu deren Gründer sie eigentlich aufforderten. So war das Christentum mehrfach fast völlig ausgelöscht worden, bis ihnen aufging, worauf sie Christus eigentlich stoßen wollte. Gott zeigte sich in seiner Schöpfung, im Leben wie auch im sonstigen Geschaffenen. Der Mensch konnte ihn erfahren, wenn er sich nicht an seine Stelle setzte. Dazu hatten sie Demut lernen müssen. Und auch im eigenen Sein, und im Miteinander, lagen mehr Möglichkeiten, als nur das eigene Leben zu leben und dabei Energie zu verbrauchen. Einfühlen, Mitgefühl und Verständnis waren Schlüssel zu einem mehr an Leben und Erfahrung - und zum wahrhaftigeren Mensch sein. Seine Frau blieb zuhause. Sie arbeitete dort, in ihrem Maisonettewohnhaus hatte sie auch ihre Praxis. Und so hatte sie auch immer das Haus und die Kinder im Griff. Als Psychologin war sie auch seine Betreuerin, wenn er aufgewühlt von einer Traumreise zurückkehrte, sie hatte ihn dann schon oft wieder auf irdischem Boden neu eingewöhnt. Carl Karuna Zeller hatte sie über seinen neuen Auftrag informiert und sich dann von ihr verabschiedet. Er war mit der Transportation hierher zur Traumreisezentrum WEU gefahren, nahe Zentral-München im dritten Agrargürtel. Er durchquerte die Außenbereiche, vorbei an den überglasten, klimatisierten Zen-Gärten, in denen Traumreisende in Kontakt mit fernen Welten meditierten.
Er musste ins Schläferhospital, da einer der Meditierenden gestern abgeglitten war, jemand, der ihm vertraut war, Michael Sorg aus seiner Siebenergruppe. Normalerweise fingen sich Traumreisende binnen Kurzem, auch wenn ihnen Außergewöhnliches begegnete. Dieser jedoch war seit mehr als 24 Stunden in komaähnlichem Schlaf und damit ein Fall für ihn aus dem Traumrettungsdienst.
Inzwischen hatte Carl die Vorhalle des Hospitals, eigentlich mehr ein Hospiz, erreicht. Es war die Hilfestation des Traumreisezentrums, für körperliche und seelisch - geistige Notfälle eingerichtet, mit einem Monitorzentrum, von dem aus die Zen-Gärten und Meditationsräume überwacht wurden, in dem die Betreuer und Ärzte stationiert waren und ihre Behandlungsräume und einige Bettenzimmer hatten. Angegliedert war ein Gästehaus und ein Versorgungszentrum mit Speiseräumen. Dieser Gebäudekomplex lag mitten hineingebettet in die ringsum liegenden Gärten.
Dass sie Rückversicherer hatten, machte Sinn, denn sie im Rettungsdienst mussten manchmal selbst ihre geistige Existenz riskieren, um nachzuvollziehen, wie und weshalb ein Gesuchter seinen Geist in fremden Sonnensystemen verloren hatte. Es kam vor, dass jemand im Stupor landete, tagelang nicht ansprechbar war, fassungslos, außer sich über das, was ihm begegnet war. Dass einer einfach weg blieb, komatös wurde wie sein jetziger Fall, war eine Seltenheit. Sicher, die beste Rückversicherung war immer noch die eigene Familie, ein liebender, vertrauter Mensch, der sich des anderen annahm. Doch auch Cornelia war ihm lieb und vertraut, ihre Anwesenheit gab ihm Sicherheit und Selbstvertrauen. Cornelia führte mit Carl in einem Nebenraum der Vorhalle das Übernahmegespräch, wie es ihm gehe, was in der Familie anstehe, seine momentane persönliche Situation, Befindlichkeit, seine Vorhaben für die nächste Zeit. Hätte Carl Probleme gehabt, er hätte den Auftrag weitergeben müssen, sie hätte dafür gesorgt. Doch es zeigte sich alles zu ihrer Zufriedenheit, und sie ließ das Briefing über seinen Klienten folgen. Michael Sorg war 32 Jahre alt, verheiratet mit Frau Christa, hatte eine dreijährige Tochter namens Christina. Er war ausgebildeter Astronom und Zen-Meister, nun etwas länger als zwei Jahre als Traumreisender unterwegs. Malerei und Zen-Kunst waren seine Hobbies. Er war psychisch stabil, mit einer Tendenz zur Introversion, gefestigt in seiner familiären Situation, ruhig, mit einem Hang zur Stoa. Da Carl Michael kannte, waren ihm die Kerndaten vertraut. Natürlich fragte er sich, was einen sonst so ruhigen, gefestigten Charakter dazu gebracht hatte, sich selbst zu verlassen. Etwa eine halbe Stunde berichtete sie ihm weiter, ging näher auf die Person seines Klienten ein, seine neuesten Aktivitäten und Entwicklungen. Dann machten sie eine Pause, tranken, aßen eine Kleinigkeit, bevor sie ihn mit der aktuellen Aufgabe seines Klienten vertraut machte. Es war eine typische Forschungsmission: Ziel erfassen, erreichen, absuchen: gab es stabile Planetensysteme, wenn ja, auch solche mit erdähnlichen Planeten? Carl kannte die Himmelsregion, die Ziel von Michaels Traumreise war. Das zu untersuchende Objekt war die Galaxie M 58, im Sternbild Jungfrau. Sie lag benachbart zu der Galaxis M87, auch Virgo A genannt, einer Galaxie mit einem schwarzen Loch im Zentrum. Beide gehörten zu einer größeren Ansammlung von Galaxien, am oberen Rand der Schale, die die Jungfrau trug. Cornelia überreichte ihm die neuesten astronomischen Aufnahmen sowie die Modelle des tatsächlichen Zustandes heute, welche die KI ermittelt hatte. Dann ließ sie ihn alleine, damit er die Daten studieren, sich die Bilder einprägen konnte. Als Carl die Bilder betrachtete, wurde er stiller, als er in seiner Ruhe schon war: Sie waren Gottes Größe in immer neuen Formen begegnet. Die Kälte des Raumes hatte sie zunächst abgeschreckt, seine Leere sie an Gott zweifeln lassen. Doch je weiter sie vordrangen, um so deutlicher trat ihnen Gottes Existenz vor Augen - oder die Weisheit des Universums, so, wie es war. Sie fanden Unerwartetes und Gesuchtes, Herrlichkeiten und Ödnis. Sie fanden Sonnensysteme mit Planeten, Gasriesen, Wüsteneien, Eisplaneten. Auf keinem anderen Himmelskörper im ganzen Weltall fanden sie Leben. Gott schien diese ihre Erde wirklich zum Zentrum des belebten Kosmos gemacht zu haben.
Nach etwas mehr als zwei Stunden, es war inzwischen Mittag geworden, meldete er sich bei ihr über sein Infopad. Sie holte Carl ab und führte ihn erst in einen Bereitschaftsraum, in dem er sich kurz frisch machte und noch einen Schluck trank, etwas aß, während sie ihm Gesellschaft leistete. Als er bereit war, geleitete sie ihn über den Flur in den karg eingerichteten Wachraum, in dem sein Klient auf dem Luftkissenbett ruhte. Gott sei Dank waren alle vitalen Funktionen gesund und keine lebenserhaltenden Maßnahmen nötig. Außerdem krampfte Michael nicht, was öfters vorkam, wenn sich ein Traumreisender in ungewöhnliche Konstellationen begab. Carl verabschiedete Cornelia unter der Türe. Sie würde ihn über ihre Monitore im Auge behalten. Carl ließ zunächst in seinen Gedanken Cornelia zurückgehen, ihren Kontrollplatz erreichen. Dann löste er seine Gedanken von ihr. Carl war alleine in diesem Raum angekommen. Er ging zu Michael und nahm ersten Kontakt auf, das heißt, er ergriff Michaels rechte Hand auf der Decke und hielt sie, ganz einfach physisch. Carl ließ Michaels Hand los, legte sie zurück auf den zugedeckten Körper, ging zu seinem Sessel auf dem Podium. Er setzte sich, lehnte sich zurück in den Stuhl, brachte diesen mit der Lehne in eine aufrechte Position, stellte seine Füße, Beine v-förmig auseinandergespreizt, auf das Podium und neigte seinen Oberkörper aus der Hüfte etwas nach vorne, stützte ihn mit der Unterarmen leicht auf den Oberschenkeln ab. Carl saß in diesem Ruhesessel im Traumreisezentrum WEU bei Pfaffenhofen. Er blickte zu Michael und war auf dem Saturnmond Rhea, schwebte über dessen Kraterlandschaft und sah die Ringe schweben um diesen gelb, ocker, orangen Gasriesen. Michael hatte hier seinen ersten Stop eingelegt, hatte sich orientiert, Carl konnte ihn spüren. Er sah sich um, blickte zurück auf die weit entfernte Sonne, suchte und fand die Erde in der Ebene der Planeten, ein entfernter heller Punkt. Er orientierte sich erneut, forschte am Himmel zwischen den Sternen, bis er das Sternbild der Jungfrau fand. Dort, am oberen Rand der Schale, die die Jungfrau trug, lag sein Ziel: Die Galaxie M58, inmitten einer Ansammlung aus mehreren Galaxien, die meisten zwischen 40 und 50 Millionen Lichtjahre entfernt. Carl erinnerte sich an seinen Sessel, dann an die Sternkarten und Modelle, die er gesehen hatte. Von hier aus musste er "zoomen", das hieß, sein Ziel ins geistige Auge fassen und darauf zu fliegen, jedoch musste er dabei auf die Veränderungen achten, die sich während der Annäherung vollzogen, und diese mit den Modellen vergleichen, die er auf der Erde gesehen und sich eingeprägt hatte. Mit seinen ersten Sprüngen überwand er gewaltige Distanzen, dann allerdings machte er eine größere Pause. Die Sternkonstellationen am Himmel, auf die er zuflog, hatten ihre Stellung deutlich verändert. Die Sternobjekte, die das Bild der Jungfrau prägten, hatte er schon in den ersten Momenten seiner Reise hinter sich gelassen, lagen sie doch mit bis zu 100 Lichtjahren Entfernung fast vor der Haustüre. Neue Sterne und Sternhaufen waren hinter und neben denen, auf die er zusteuerte, sichtbar geworden. Sein Ziel, M58, hielt er jedoch immer genau fixiert. Er war schon so nahe - obwohl er immer noch in seinem Sessel in der Traumreisezentrale saß, wie er sich vergewisserte - das aus den milchigen Lichtpunkten nebelige Flecken mit heller leuchtenden Armen geworden waren. Nicht aus allen, aus einigen. Außerdem hatte er nun schon wirklich intergalaktische Dimensionen überwunden - und war dem einzigen störenden Phänomen begegnet, das es für Traumreisende gab. Traumreisen war immateriell, nahezu zeitlos, und trotzdem gab es zwischen den Galaxien eine Beeinträchtigung für Traumreisende: Schwarze Materie - und Sternenstaub. Diese Melange wurde als "Honey Sweet", als süßer Honig bezeichnet. Wo kein Körper war, verbuk es die Gedanken, Traumwellen oder was auch immer. Carl musste das ausbrennen. Im intergalaktischen Raum sind Sonnen selten. Er fasste sein Ziel mit doppelter Genauigkeit ins Auge, raste darauf zu und hielt gleichzeitig Ausschau nach einer nahen Sonne. M58 war schon das deutlichste Ziel vor Augen, als er, noch im intergalaktischen Raum, einen Streuner, einen Außenseiter von Sonne fand. Ein weißer Zwerg war es, der vor Äonen seine Galaxie verlassen haben musste oder hier draußen aus einem lokalen Materiefeld als Stern der Hauptreihe entstanden war. Er nannte ihn Christa-Virgo, nur für die eigenen Aufzeichnungen und falls er wirklich noch nicht kartographisch erfasst sein sollte. Er konnte nur hoffen, dass die Temperaturen über der Oberfläche hoch genug sein würden, er erwartete etwa 5000° Kelvin, etwas mehr in der Chromosphäre. Sein Ziel, M58 vor Augen, driftete er seitlich auf den Stern zu. Wie auch immer, nach dem dritten Durchgang durch die Lichtschwaden der Chromosphäre war alles verdampft, was ihn behindert hatte. Seltsam, wie sich solche Hitze anfühlen konnte. Andere Traumreisende hatten dies den "Saunagang" genannt - Carl verstand, fand den Ausdruck aber ungenügend. Noch war er im Raum zwischen den Galaxien, M58 aber war nun deutlich als Sc-Galaxie zu erkennen, eine Milchstraße, die sehr der heimatlichen ähnelte, in einem derer äußeren Arme die Erde lag. Das Bild: Die Galaxie vor ihm mit ihren nach links auslaufenden, gewundenen Spiralarmen, gleißende Sonnen in offener Ordnung gefügt, rotierend um ein gemeinsames, nur relativ kleines, rundes Zentrum, darüber die Galaxie M87 Virgo-A, darum herum, darunter, dahinter andere Milchstraßen unterschiedlicher Formen und Größe, nahe, deutlich erkennbar oder als verschwommene, neblige Flecken weiter entfernt. Virgo A hatte sich auf den Aufnahmen, die aus dem Sonnensystem heraus gemacht worden waren, noch als nahezu kugelförmige Galaxie gezeigt. Hier nun zeigte sie sich als abgeflachter Diskus, mit angedeuteten, faserigen Spiralarmen am Außenrand, angeordnet um konzentrisch verlaufende Ringe aus Sternen, Sternmaterie, plasmatischen Gasen, die alle zusammen, je näher am Zentrum, um so heller leuchtend, um einen absolut schwarzen Mittelpunkt rotierten. Über den Polen dieses Zentrums standen spindelförmige Plasma- und Gaswolken, in denen und um die herum sich Sterne und Sternhaufen drehten. Michael hatte gleiches gesehen, war hier in der Nähe gewesen, Carl konnte ihn spüren. Was sollte dieses Ziehen nach Virgo-A? Diese Galaxie war eine starke Strahlungs- und Röntgenquelle, dass sie ein extrem starkes schwarzes Loch im Zentrum barg, war ersichtlich. Alleine schon wegen der Strahlungsintensität dieser Galaxie konnte ausgeschlossen werden, dass sie lebentragende Planeten barg. Neugier, sehen wollen, Forscherdrang, gab er sich selbst zur Antwort. Doch Michaels Spur führte ihn zum oberen Spiralarm von M58. Also hatte der andere zunächst seinem Auftrag gemäß und vernünftig gehandelt. Tatsächlich spürte er, am neuen Ausgangspunkt, dem Ende eines der Spiralarme von M58 angekommen, wie der andere mit seiner Arbeit begonnen hatte. Ein räumliches Zick-Zack-Muster von suchendem Geist entspann sich zwischen den Sternen. Sonne anpeilen, Halt über einem Pol, Orientierung - Planeten erkennbar? - wenn nein: auf zur nächsten Sonne, wenn ja: Inspektion der Himmelskörper. Carl folgte diesem Muster, bis es sprang. Selbst Traumreisende hatten nicht beliebig viel Zeit zur Verfügung, sie verschafften sich stichprobenartige Eindrücke und waren bemüht, ihr Forschungsfeld nach typischen Eigenheiten zu strukturieren. Michael hatte sich zunächst in einer äußeren Randzone bewegt und war dann in ein Gebiet mit höherer Sternendichte in der Mitte des Armes aufgebrochen. Bevor Carl ihm folgte, vergewisserte er sich: Er saß in diesem Ruhesessel im Traumreisezentrum WEU bei Pfaffenhofen. Dann eilte er dem anderen hinterher.
Im Randbereich der Galaxie hatten sie nur wenige Planeten entdecken können, kalte Eiswüsten, taube Felsbrocken, kraterübersäht, zwei Systeme mit je einer Sonne und einem dunklen Gasriesen, die fast zu Doppelsystemen geworden wären, hätten die Planeten etwas mehr Masse gehabt. Eine Sonne schien ihren Begleiter zu verzehren. Von ihm reichte ein dünnes Gasband wie ein s oder besser wie zwei ineinander verschlungene Spiralen bis in ihre Chromosphäre. Carl folgte der Spur des Anderen, die zunächst lehrbuchmäßig von der Sonne nach außen zu den Planeten führte. Die beiden innersten lagen so nahe an ihrem Zentralgestirn, dass die Oberflächentemperaturen dort am Schmelzpunkt der Mineralstoffe lag, aus denen sie bestanden. Der dritte Planet war eine immer noch heiße Gesteinswüste mit gewaltigen Einschlagkratern. Zudem zeigte er starke vulkanische Aktivitäten. Nummer Vier: Kohlendioxid-Atmosphäre mit hohen Beimengungen von Schwefeloxiden und Schwefelwasserstoffen, soweit er erkennen konnte. Aus gelblichen Wolken viel schwerer Regen, vielleicht Schwefelsäure, heftige Stürme fegten über die Oberfläche, die, felsig, von Erosionsspuren gezeichnet war. In den tieferen Regionen sammelte sich der Niederschlag in dampfenden Ozeanen und Seen, um die herum schwefelgelbe Ausblühungen, Verkrustungen liefen. Eine Art Ursuppe mochte sich dort zusammenbrauen. Auch hier gab es Anzeichen für geologische Aktivitäten. Der fünfte Planet fiel ihm am stärksten ins Auge: Ein blau-rot schimmerndes Juwel unter den Sternen. Zunächst mochte Carl sogar auf eine Sauerstoff-Stickstoff Atmosphäre hoffen, zogen doch weißlich-graue Wolkenschleier um den Planeten. Auch gab es ausgedehnte weiße Polkappen. Spontan nannte er diesen Planeten "Blau-roter Methusalem". Beim Durchqueren der Atmosphäre mochten diese Wolken wirklich Wasserdampf oder Eiskristalle sein. Das Blaue dort unten waren jedenfalls Wassermeere, auf denen bis weit in Äquatornähe Eisberge und Schollen trieben. Ob Stickstoff, Kohlendioxid oder Sauerstoff, die Atmosphäre vermochte er so nicht eindeutig zu analysieren. Fast die gesamte Landmasse, die nicht von Eis bedeckt war, zeigte einen gleichmäßig rostroten Farbton, es gab Gebirge, deren Flanken Erosionsspuren aufwiesen, Täler, die zum Teil Wasser führten. Neben Felsbrocken ragten Gebilde in den Himmel, die für Carl aussahen wie freigelegte Erzadern. In Mulden, vor Böschungen und Felsbrocken hatte sich feinster Staub angesammelt, der die gleiche rötlich-braune Farbe hatte wie die Formationen ringsum. Beim geringsten Wind stob er in Blasen auf, flog jedoch nicht weit, als wäre er in einem Kraftfeld gefangen. Anzeichen auf Leben? Auf den ersten Blick sah er nichts, was er als pflanzliches oder gar tierisches Leben hätte deuten können. In Michaels Spuren fand er hier noch etwas, was er nicht zu finden gewünscht hatte: Besagte Müdigkeit, dazu Enttäuschung und Trauer - und ein Quant Euphorie. Einen Planeten mit so viel offenem Wasser zu finden, der auch ansonsten Merkmale aufwies, die nicht lebensfeindlich waren - und dann keine Spur von Leben. Sicher enttäuschend. Michael hatte schon öfters Planeten besucht, er kannte die Ergebnisse ihrer bisherigen Forschungen. Es konnte auch eine Mischung aus der Müdigkeit und dieser Enttäuschung sein. Aber da war auch noch diese Euphorie.
Wie auch immer es Michael hier ergangen sein mochte, Carl musste hier unterbrechen. Diesen Ort mussten Planetologen, Exobiologen, Chemiker untersuchen. Die Euphorie Michaels schaffte Carl die meisten Bedenken. Er kannte das: Körper und Geist konnten unter der anhaltenden Anspannung und Bewegungslosigkeit während des Traumreisens in Trance treten, eigene Person und bewusste Ziele gingen verloren, ein Glücksgefühl und die Fähigkeit, sich im Universum grenzenlos bewegen zu können, wirkten befreiend, aber auch überwältigend. Das Nirvana-Gefühl trat ein, ein allumfassendes Einssein mit allem. War jedoch eine depressive Neigung vorhanden, und Müdigkeit und Enttäuschungen konnten so etwas steigern, konnte das Erleben auch in eine überwältigende Todessehnsucht ausarten, oder doch zumindest in einen Wunsch nach andauernder Ruhe, Frieden, gleich, wo man dies fand. Langsam erkannte Carl, wo es Michael hingezogen hatte: Seine Spur führte über die Bahnen der Gasplaneten, ohne bei diesen zu halten, hinaus aus dem System zu jenem kalten Doppelplaneten. Dieser wäre sicherlich einer genaueren Inaugenscheinnahme wert gewesen, doch Michael hatte auch hier nicht mehr gehalten, vielleicht kein Halten mehr gekannt. In flachem Bogen zog seine Spur hinaus aus dieser Galaxis, hinauf, direkt auf den Diskus von M87 zu. Carl folgte ihm. Jedoch näherte er sich Virgo A auf einem Parallelkurs zu dem, den Michael genommen hatte. Er blieb außerhalb der Ebene des Diskus und hielt etwa auf Höhe der Spiralarme inne. Langsam driftete er näher, achtete jedoch darauf, dass der Sog, der von diesem Ort ausging, nicht zu stark auf ihn wirkte. Er hatte Michael gefunden. Diese Glückswogen von dort, wo der Ereignishorizont des schwarzen Lochs begann. Geist konnte nicht hinabgezogen werden, aber er hätte bis in alle Ewigkeit dort kreisen können, wo Existenz aufhörte, ein Begriff zu sein. Carl war wieder in seinem Sessel und hier. Er stellte sich vor, angekommen zu sein, bevor er los flog. Dann schnellte sein Geist wie ein Pfeil ab von der Sehne eines Bogens, den er selber hielt, tangential hinüber auf den rotierenden Mahlstrom aus Sternen zu, in dem der andere glückselig gefangen lag. Nur eine kurze Berührung, nur einen Moment seine Energie auf den anderen übertragen.
Epilog
256 Millionen Jahre später saßen andere Traumreisende in einem vollklimatisierten Komplex, der früher einmal der von Pfaffenhofen gewesen sein könnte, zumindest, was seine geographische Lage nach Längen- und Breitengraden anbetraf. Sie erforschten immer noch das Universum und wagten sich auf den Spuren anderer immer weiter hinaus an die Grenzen des Erfahr- und Erlebbaren, als von der Sonne ein blendend weißes Licht ausging und Gott seinen Plan erfüllte. Sie folgten seinem Ruf. Klaus Gölker ©2001 | Home | |